Kollektive Simulation

Sibylle Berg ist die Großmeisterin der Desillusionierung. In ihrem neuen Roman schickt sie unzufriedene Sinnsucher auf eine grausame Weltreise und lässt ein paar von ihnen auf Island glücklich werden. von Theodora Becker

Das kann es nicht gewesen sein, dachte Peter mit der unangenehmen Ahnung, dass es das gewesen war.« Solch wunderschön beiläufige, überaus deprimierende und entmutigende Sätze gibt es im neuen Roman »Die Fahrt« von Sibylle Berg wieder genug zu lesen, um das Herz jedes Melancholikers und Pessimisten zu erfreuen. »Es ist ja auch alles ein bisschen traurig, lustig und doof, und wir sterben bald. Es hat alles etwas erbärmlich Niedliches, wenn man sich die ganzen Bemühungen anschaut, die alle für’n Arsch sind«, sagt Sibylle Berg. Auch in »Die Fahrt« lässt sie ihre Figuren halb resigniert, halb strebend ein diffus besseres Leben suchen, Glück, Liebe, jedenfalls irgendwas, bei dem man nicht einsam ist. Aber was genau könnte das sein? Und wie findet man es? Keine Ahnung. Und fast immer stellt sich am Ende heraus: Das, was man gefunden hat, ist es nicht.

Sibylle Berg hat ein großes Talent dafür, das Leben mit desillusionierenden Worten zu beschreiben, ihren Figuren keinen Hoffnungsschimmer zu lassen, keine Perspektive. Nur eines lässt sie ihnen, das sie am Leben erhält, eines, das ihnen wichtig ist, das sie vielleicht sogar lieben. Um es ihnen dann fast beiläufig wegzunehmen. Dann kommt der Tsunami, der alles zerstört, der einzige Mensch stirbt, man verliert auch noch das andere Bein. Das hört sich dann so an: »Igors einziges Gefühl war Angst. Vor dem Sinken des Pegels für einen Moment zu viel zu sehen, zu viel zu spüren, er wusste, dass er nicht würde weiterleben können, wenn er auch nur für eine Minute Klarheit hätte (…). Die einzigen Gefühle, die er auch betrunken hatte, galten den Kaninchen hinter seinem Haus (…). Stunden konnte Igor so sitzen, das Gesicht in die Kaninchen vergraben, ihr kleines Herz hören, alles vergessen und am meisten sich selbst. Vielleicht lebte Igor nur wegen der Tiere. Vielleicht wollte er sie nicht alleine lassen. Bis zu jener Nacht, da es plötzlich minus 30 Grad geworden war.«

Oder sie wartet, bis ihre Figuren ganz von selbst die Katastrophe herbeiführen. Weil sie unfähig sind, das einmal gefundene Fetzchen Glück festzuhalten. Aus lauter Angst, es zu verlieren, zerstören sie es. Tun das Blödeste, was ihnen einfällt.

Unvermeidlich fragt man sich, ob das nicht alles ein großes Missverständnis ist, das mit dem Individuum, ob der Mensch dafür nicht einfach zu dumm ist. Ob er das überhaupt will, ein Individuum sein. Eher scheint er mit dieser Idee völlig überfordert. Anstatt selbstbewusst und emanzipiert sein Leben in die Hand zu nehmen und seines eigenen Glückes Schmied zu sein, weiß er nichts mit sich anzufangen. Er fragt: Freiheit wozu? und weiß keine Antwort. Er weiß auch nicht, was das sein könnte: Glück. Stattdessen tut jeder das, was alle tun, aber wie das genau geht und wozu es gut ist, weiß eigentlich niemand. Kollektive Simulation.

Sibylle Berg karikiert die westliche Sinnsuche, die in Dritteweltländer oder Esoteriksekten führt, in der Annahme, etwas vermeintlich Ursprünglicheres zu finden. Stattdessen ist es da aber einfach nur dreckig, elend und viel zu heiß, oder alle sind dick und hässlich, besonders man selbst. Konsequent stört Sibylle Berg die Glücksvisionen, die der gemeine Mensch sich so ausdenkt: Das Meer ist bei ihr grundsätzlich stinkend, kalt und dreckig und besitzt keinen Funken romantischer Erhabenheit. Das idyllische Haus am Strand oder die nie endende Zweisamkeit – wenn ihre Figuren das scheinbare Ziel ihres Strebens erreichen, stellt es sich als gänzlich leer heraus und vermag keinerlei euphorische Gefühle zu wecken. Und jetzt? fragen sie sich und merken, dass sie keine Ahnung haben, was sie hier eigentlich gewollt haben.

Aber es geht nicht nur um die übersättigten Westler, die aus lauter Überdruss in der Welt herumreisen, sondern auch darum, wie beschissen das Leben der Menschen in den meisten Ecken der Welt tatsächlich ist. In den Slums von Dhaka, in Bombay, als Bergarbeiter in der Ukraine oder in den Plattenbauten von Berlin. Dazu ist Sibylle Berg ein Jahr lang gereist und hat darüber auch einige Reportagen verfasst.

»Die Fahrt« hat kleinere formale Mängel. Öfter mal holpert ein Satz oder ein Anschluss ­ist nicht stimmig. Und manchmal legt Sibylle Berg ihren Figuren ein wenig zu philosophische Gedanken in den Kopf, die wohl mehr ihre eigenen sind. Aber das macht nichts, denn es geht um etwas anderes: um die Absurdität der mensch­lichen Existenz. Um Frauen mit Waschzwang und Männer, die blöd sind, um das Altern und warum Deutschland so hässlich ist. Um Langeweile und Angst und warum man sonst nichts fühlt. Um Überbevölkerung, Größenwahn und Selbstmord und warum Sex keinen Lebensinhalt abgibt. Und all das zu beschreiben, versteht Sibylle Berg so gut, dass man davon ganz schlecht gelaunt wird. Denn was sie schreibt, ist viel zu realistisch, als dass man sich davon einfach distanzieren könnte. Unvermeidlich fällt einem auf: Auch ich könnte eine dieser Figuren sein. Der schonungslose Blick von Frau Berg auf mein Leben – das würde auch nicht viel besser klingen als: »Paul wusste nicht, warum ausgerechnet er so ein uninteressanter Mensch sein musste. Als interessante Person würde er jetzt ein Buch lesen und sich Notizen machen. Dazu würde er Free Jazz hören. So saß er in seinem Zimmer, das irgendwie nicht stimmte, und schaute seine Füße an.« Oder: »Laufen, etwas erleben. Immer dieser Drang, etwas erleben zu müssen. Ruth litt unter ihrer Bequemlichkeit, denn immer wieder hatte sie Angst, ihr Leben zu verschlafen.« Wenn man dagegen eher der von sich selbst überzeugte, elitär-misanthropische Typ ist, dann kann die Lektüre des Buches auch sehr erhebend sein, dank Distinktionsgewinn. Man kann sich in seiner Differenz zu all den oberflächlichen und dummen Leuten um einen herum bestätigt fühlen, die ihr Glück in vorgestanzten Mustern suchen und zwangsläufig verfehlen, die untätig sind, träge und resigniert, die überhaupt auf diese dämliche Suche nach Erlösung fixiert sind, auf die Hoffnung, dass durch irgendein Ereignis plötzlich alles ganz anders würde. Dabei weiß doch jeder, dass nichts einfach anders wird, schon gar nicht durch Nichtstun. Und überhaupt: Warum so deprimiert? Wo bleibt die Lebensfreude?

Im Gegensatz zu »Sex 2« oder ihrem Debüt­roman »Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot« finden in »Die Fahrt« ein paar Leute aber tatsächlich so etwas wie das Glück. Einen Ort, an dem es sich leben lässt. Island zum Beispiel. »Island war nicht nur das Land mit den glücklichsten Menschen der Welt, sondern auch das am dünnsten besiedelte. Klarer Zusammenhang.« Das ist am Ende so etwas wie Sibylle Bergs ganz bescheidene positive Utopie: an einem Ort leben, wo man in Ruhe gelassen wird, wo es nicht zu heiß ist und nicht zu hässlich, ein wenig Wohlstand, damit das Leben nicht zu schwer ist, noch einen anderen Menschen neben sich – das reicht ja schon für ein wenig Zufriedenheit. Und letztlich: Was könnte man denn sonst noch wollen? Und wozu eigentlich?

Sibylle Berg: Die Fahrt. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2007, 256 S., 19,90 Euro