Rollentausch im Kreml

Mit einer Kandidatur für das Amt des Minis­terpräsidenten will Wladimir Putin seine Macht erhalten. Doch einige Unsicherheitsfaktoren bleiben. von ute weinmann, moskau

Für die Mitglieder der regierungstreuen Jugendorganisation Naschi ist der Fall klar. »Putin ist unsere Zukunft« gehörte zu den beliebtesten Parolen bei der öffentlichen Feier anlässlich des 55. Geburtstags ihres Idols am Sonntag. Auch unter den Russen, die weniger begeistert von ihrem Präsidenten sind, gibt es wenige, die bezweifeln, dass es so kommen wird.

Wenn in Russland von der »Operation Nachfolger« die Rede ist, stellt sich mitnichten die Frage, ob der amtierende Präsident Wladimir Putin seine Macht an eine andere mit Amt und Würden ausgestattete Person übergibt. Auch wenn seine Amtszeit nach den verfassungsrechtlich maximal möglichen acht fortlaufenden Jahren im Frühjahr 2008 endet – an Putin kommt niemand vorbei. Die Frage ist daher allein, wie sein Verbleib an der Staatsspitze unter Einhaltung von Recht und Gesetz zu bewerkstelligen ist. Spekulationen darüber kursieren jedenfalls en masse.

An unkalkulierten Wendungen ist das Putinsche System indes so arm wie an öffentlicher Kontrolle und transparenten Entscheidungsprozessen. Die zahlenmäßig überschaubare politische Oli­garchie trägt ihre Machtkämpfe hinter verschlossenen Türen aus. Öffentliche politische Debatten, die wegen der spärlich mit Fakten unterfütterten Diskussionsgegenstände hauptsächlich von den nie enden wollenden Gerüchten aus dem Kreml zehren, drehen sich größtenteils um Personalfragen.

Meist beruhen die Gerüchte auf Spekulationen, deren Wahrheitsgehalt nicht überprüfbar ist. Aus dem Umfeld des Kremls gezielt lancierte Gerüchte zeichnen sich hingegen durch eine Eigenschaft aus, die der Praxis der Geheimdienste entstammt. Durch Putins Amtszeit zieht sich ein unaufhaltsamer Strom an gezielt gestreuter Desinformation, die schließlich allein durch den Präsidenten ihre überraschende Auflösung findet.

Beispiele dafür finden sich zuhauf. So wurde im Oktober 2003 die »aus sicherer Quelle« stammende Nachricht verbreitet, Wladimir Jakunin, der spätere Präsident der Eisenbahn AG, werde den damaligen, noch in der Ära von Präsident Boris Jelzin eingesetzten mächtigen Chef der Präsidialadministration, Alexander Woloschin, ablösen. Tatsächlich aber beförderte Putin dessen Konkur­renten Dmitrij Medwedjew. Nach dem gleichen Schema verlief Ende September diesen Jahres die Neubesetzung des Regierungsvorsitzes mit dem Finanzaufsichtschef Viktor Subkow anstelle des von Insidern als Favoriten gehandelten stellvertretenden Ministerpräsidenten Sergej Iwanow. Und noch Tage vor dem 1. Oktober hieß es, der Präsident werde dem Parteitag seiner Hausmacht »Einiges Russland« womöglich fern bleiben.

Wladimir Putin erschien indes nicht nur leibhaftig, sondern leitete an jenem Tag die »Operation Rückkehr« ein. Er verkündete, den Vorschlag seitens der Partei anzunehmen, auf dem ersten Listenplatz bei den Dumawahlen am 2. Dezember zu kandidieren. Dass er gar nicht Mitglied der Partei ist, steht dem rechtlich nicht im Wege. Ebenfalls wolle er den Regierungsvorsitz einnehmen, allerdings nur unter zwei Bedingungen. Erstens müsse die Partei »Einiges Russland« die Wahl gewinnen, zweitens komme als zukünftiger Präsident nur ein »anständiger, handlungsfähiger, effektiver und moderner Mensch« in Frage, mit dem sich »im Team arbeiten« lässt.

Das »Einige Russland« triumphiert ob seiner phänomenalen Aufwertung und sieht sich bereits in der Rolle als allein herrschende Partei der kommenden Jahrzehnte bestätigt. Kreml­treue Politologen werten die bevorstehenden Parlamentswahlen als zukunftsweisendes Vertrauensplebiszit für den amtierenden Präsidenten, und die Medien titelten über diesen Schachzug mit den prägnanten Worten »Putins Plan«, als ob damit der weitere Lauf der Dinge ein für alle Mal geklärt sei.

Die offensichtliche Erleichterung vieler Beobachter nach der verkündeten, an und für sich leicht zu verwirklichenden Absicht Putins, als bekanntester und beliebtester Politiker des Landes die Liste der Kremlpartei »Einiges Russland« zum Sieg zu führen, offenbart eine in sich widersprüchliche Dynamik. Wladimir Putin ist nicht dafür bekannt, seine persönlichen Pläne im Voraus einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Dennoch dominiert die Bereitschaft, allen Worten des Präsidenten uneingeschränkt Glauben zu schenken. Die Hauptsache ist, dass Putin als nationaler Führer erhalten bleibt. Sein Plan scheint Gewissheit für die Zukunft zu schaffen und trifft nach Angaben des General­direk­tors des Meinungsforschungs­instituts ­WZIOM, Walerij Fjodorow, in der Bevölkerung auf 80prozentige Zustimmung.

Aber allein die überwältigende Unterstützung für seine Person reicht nicht aus, um an der Macht zu bleiben. Das Amt des Regierungsvorsitzenden bietet sich zwar als Interimslösung an, garantiert jedoch nicht den Machterhalt. Selbst dann nicht, wenn sich Ministerpräsident Viktor Subkow als geeigneter Übergangskandidat für das Präsidentschaftsamt profilieren sollte. Wegen seiner Nähe zu Putin und seines fortgeschrittenen Alters, das ihm jederzeit erlauben wird, aus gesundheitlichen Gründen von seinem Posten zurückzutreten, wird er derzeit als ideale Figur für Putins Comeback als Präsident gehandelt. Als Regierungschef würde Putin durch den Rücktritt des Staatsoberhauptes automatisch in das Präsidentenamt gehievt und könnte sogar erneut zu einer Wahl antreten. Sollte Subkow indes dem Präsidentensessel nicht wie geplant rechtzeitig entsagen wollen, bliebe Putin keinerlei rechtliche Handhabe, seinen Teampartner zu entmachten.

Nach der Verfassung ist das politische System Russlands voll und ganz auf den Präsidenten zugeschnitten, der die Regierung ernennt und entlässt, die wiederum nicht dem Parlament, sondern allein dem Präsidenten gegenüber verantwortlich ist. Die Regierung legt ihre Amtsgeschäfte nieder, wenn ein neuer Präsident gewählt wird. Das soll Anfang März geschehen. Insofern berühren die bevorstehenden Dumawahlen am 2. Dezember das politische Machtgefüge nur am Rande. Die Wahlen stecken lediglich den Zeitraum ab, innerhalb dessen großangelegte politische Manöver zur Machtsicherung erfolgen. So geschehen vor Putins Amtsantritt 1999 mit der Entfesselung des zweiten Tschetschenien-Kriegs.

Allerdings könnte der Sitzverteilung im Parlament dieses Mal eine bedeutendere Rolle zukommen, denn sollte der amtierende Präsident eine Verfassungsänderung anvisieren, um beispielsweise die Position des Ministerpräsidenten zu stärken, braucht er im Parlament eine verlässliche Zweidrittelmehrheit. Dieser Schritt wäre jedoch ein gewagtes Unterfangen, denn die verfassungsrechtliche Verschiebung weit reichender Vollmachten auf den Regierungschef würde ohne entsprechende umfangreiche Gesetzesreformen ihre Wirkung verfehlen.

Nur wenn er weiterhin die Macht in seinen Händen bündelt, wird es Wladimir Putin gelingen können, seinen politischen Einfluss über das Frühjahr 2008 hinaus in vollem Umfang zu bewahren. Vorsorglich vollzog er in einigen Bereichen eine Umverteilung des in der Jelzin-Ära erbeuteten, vormals sowjetischen Staatseigentums, indem er seine Vertrauten aus dem Kreis ehemaliger Geheimdienstler und Mitarbeiter während seiner Zeit in der Petersburger Stadtverwaltung in politische und ökonomische Schlüs­sel­positio­nen berief. Gleichzeitig hat er dafür gesorgt, dass die Machtelite lukrative Posten in staatlichen Großkonzernen wie Gazprom, Rosneft, der Eisenbahn, der Sberbank und im Rüstungssektor besetzt.

Ob allerdings Putins gesamter Hofstaat seine Loyalität auch in der Übergangszeit vor dem geplanten Comeback wahrt, lässt sich nicht mit Sicherheit prognostizieren. Zumal selbst die Macht eines Präsidenten Grenzen hat. So wurde erst nach Monaten bekannt, dass einige Generäle des Inlandsgeheimdienstes FSB ihre von Putin angeordnete Entlassung schlichtweg ignoriert hatten.

Putins Plan wird überdies auch für das anvisierte Zweiparteiensystem aus dem »Einigen« und dem »Gerechten Russland« spürbare Konsequenzen nach sich ziehen. Durch die Kandidatur des Präsidenten verlieren die »Gerechten« deutlich an Boden. Sie enstanden im Oktober 2006 aus einer Fusion der Parteien »Leben«, »Rodina« und der Rentnerpartei und sollten eine Putin ergebene »Linke« bilden. Doch jüngsten Wählerumfragen zufolge können sie nur mit zwei Prozent der Stimmen rechnen. Dieser Umstand könnte der kommunistischen Partei (KPRF) zu einem neuem Aufschwung verhelfen, denn der ursprüngliche Plan, das »Gerechte Russland« auf Kosten der KPRF zu stärken, ist damit hinfällig.

Um ihre Glaubwürdigkeit als Partei für die Vertretung sozialer anstelle korporativer Interessen zu unterstreichen, lenkte die KPRF die öffentliche Aufmerksamkeit von Putins Plan auf eine der Miseren der vergangenen Monate. Seit Anfang des Jahres sind die Preise für eine Reihe von Grundnahrungsmitteln, darunter Milchprodukte, Brot und Pflanzenöl, immens gestiegen. Einige Regionen melden allein für den Zeitraum ab Anfang September eine Teuerungsrate zwischen zehn und 70 Prozent. Im Kaliningrader Gebiet stieg der Preis für ein Liter Pflanzenöl von umgerechnet etwa 85 Cent auf 1,70 Euro, was zu handgreiflichen Auseinandersetzungen in Lebensmittelläden führte.

Das »Einige Russland« verspricht unter seiner Alleinherrschaft nach den Wahlen eine neue Lebensqualität. Offenbar hat die neue Ära bereits begonnen.