Wie man ein Mann wird

Jörg W. Gronius lässt das Berlin der Siebziger zwar neu entstehen. Mit »Plötzlich ging alles ganz schnell« schließt er aber seine autobiografische Romantrilogie eher schwach ab. von jörg sundermeier

örg W. Gronius ist offensichtlich ein vielseitig begabter Mensch, trotzdem kennt ihn kaum jemand. Daran wird vermutlich auch der Ben-Witter-Preis, der ihm bald verliehen wird, nichts ändern. Im Internetlexikon Wikipedia ist eine überaus trockene Kurzbiografie zu finden: »Gronius studierte Theaterwissenschaft, Germanistik, Ethnologie und Religionswissenschaft an der Freien und der Technischen Universität Berlin. Von 1979 bis 1982 war er Dramaturg an der Schaubühne Berlin. 1983 promovierte er in Thea­terwissenschaften und war danach bis 1997 an wechselnden Schauspielhäusern als Dramaturg und Regisseur tätig, so am Wiener Burgtheater, an der Freien Volksbühne und den Staatlichen Schauspielbühnen in Berlin und dem Deutschen Schauspielhaus in Hamburg. Heute lebt er als freier Schriftsteller in Saarbrücken. Gronius ist bislang als Autor von Dramen, Libretti, Prosa, Lyrik, Features, Essays und Romanen hervorgetreten.«

Doch der 1952 geborene Mann ist nicht einfach irgendein Autor. Eines seiner vielen gemeinsam mit Bernd Rauschenbach verfassten Theaterstücke trägt den Titel: »Ich bin allein gegen zweitausend Tiger oder die allgemeinen Sachen der Menschheit oder ›Meine Herren, erheben Sie sich von den Plätzen!‹ Eine Unterstzu­oberst­kehrung unser aller Mutter in noch nicht abzusehenden Wälzungen.« Ein anderes heißt: »Ja, wenn die Bukolik nicht wär! oder Samson, knall den Segen rein oder Weltrekord wider Willen oder die Hermannshofschlacht. Ein Pfingstspiel nach dem Frühstück mit Prozessionszwang.« Wie man sieht, der Autor hat Humor. Sein Haupt­werk allerdings besteht aus der autobiografischen Romantrilogie, die die Romane »Ein Stück Malheur«, »Der Junior« und »Plötzlich ging alles ganz schnell« bilden. Für diese Trilogie wird ihm nun der Ben-Witter-Preis zuerkannt.

»Ein Stück Malheur«, der Auftakt und stärkste Teil der Trilogie, der im Jahr 2000 erschien, schildert das Aufwachsen des namenlosen Ich-Erzählers in einer Kleinbürgerfamilie. Am Lausitzer Platz in Berlin-Kreuzberg haust die Familie, die vor allem aus der Mutter und der Großmutter besteht, die die kleine enge Altbauwohnung beherrschen und immer wieder absurden, selbstquälerischen Putzritualen unterwerfen, den Sohn bestrafen, indem sie ihn in den unheimlichen Schrank sperren, die allwöchentlich hintereinander in demselben Badewasser baden und die es dem Sohn nicht verzeihen, dass er dennoch Anzeichen von Intelligenz zeigt. Alles, was sich nicht in die kleinbürgerliche Wahnwelt einfügen lässt, gilt als falsch. Der Vater arbeitet als Tankwart und trinkt, ihm ist die Flucht aus der Enge vorbehalten, aber er ist es auch, der diese Welt zugleich zusammenhält. »Ein Stück Malheur« ist dabei auch ein sehr komischer Roman.

»Der Junior«, der 2005 erschienene, zweite Teil der Trilogie, knüpft an den ersten an, nun zieht die Familie in eine Neubauwohnung. Sie hat ein Bad, und Gummibaum und Polstergarnitur erzeugen hier die falsche Idylle. Der »Junior«, wie der Vater den Erzähler nennt, ist noch zu jung für jenen Aufstand, nach dem er sich sehnt, versteht die Vorgänge um 1968 herum nicht ganz, findet die Aufmärsche grotesk, durch­lebt die Wirrungen der Pubertät und sehnt sich nach dem Theater, mit dem er erstmals in einem Schulkurs in Berührung kommt. Denn »in Herrn Bromes Theater-Kurs stotterte ich nicht«. Und beim Proben der Brechtschen »Kleinbürgerhochzeit« entdeckt er die Liebe, die Liebe zur Referendarin Frau Holland. Doch die Eltern sehen den Sohn nicht auf der Bühne, sie haben andere Pläne: »Der Junge geht zur Post, da hat er ein schönes Auskommen.«

Im soeben erschienenen abschließenden Teil der Trilogie, »Plötzlich ging alles ganz schnell«, wird der Erzähler dann erwachsen. Er schafft es zu studieren, jobbt an der Tankstelle, bezieht seine eigene Wohnung, experimentiert mit seiner eigenen, selbst gegründeten Theatergruppe, lauscht Klaus Heinrich und Jacob Taubes, raucht, trinkt, fickt. Das Berlin der Siebziger entsteht in diesem Roman neu, mit der FU, der legendären Heinrich-Heine-Buchhandlung im Bahnhof Zoo, mit Edith Clever und Bruno Ganz in den »Bakchen«, mit Selbstverwirklichungs­ideen und DDR-Grenzpolizisten. Aber Jörg W. Gronius muss seine Trilogie beenden, weswegen er die in den vorhergehenden Romanen entwickelten Motive zusammenspinnen muss, und so gibt er dem Ganzen einen etwas bedauerlichen Einschlag.

Denn alle Frauen (»Als Mann kriegte man einfach nie und niemals genug«) werden gegen Ende des Romans anscheinend nur für das Ziel gebraucht, Mutter eines Kindes zu werden, das allerdings nicht Kind genannt werden soll: »Adorno hatte gesagt: Nie wieder Lyrik nach ­Auschwitz. Ich sagte: Nie wieder Kinder! Ab jetzt nur noch Menschen!« Damit versucht der Erzähler, auf die Großmutter zu reagieren, die sagte: »Kinder haben nichts zu wollen. Kinder haben zu gehorchen.« Bei allem Leid: ­Auschwitz ist das nicht.

Durch das Menschenskind, durch Vaterschaft und durch – da der Schwiegervater ein bornierter Geldsack ist – heimliche Heirat wird also der Mann gemacht. Der denn auch gleich am Geburtstag seines Kindes alle Vergangenheit, also alle bisherigen Frauen, hinter sich lassen kann: »Als er die Badezimmertür öffnete, stoben sie kreischend auseinander. Da waren sie alle. Nackt und halbnackt drängten sie sich lachend aneinander und sahen ihn spöttisch, aber nicht feindlich an. Sie waren dabei, sich zu waschen, zu schminken, zu frisieren, eine schnitt sich überm Klo die Fußnägel. Die schlan­ke Tänzerin hatte ihren stählernen Körper verchromt und auf Hochglanz poliert. Lynn hatte zugenommen, strich sich mit der rechten Hand über den runden Bauch und steckte mit der Linken den Rest eines mit Mortadella belegten Brötchens in den Mund. Eveline waren am Rücken buntgefiederte Flügel gewachsen, die sie mit strahlendem Gesicht entfaltete und mit denen sie die ganze Breite des Badezimmers einnahm. Marylin hatte Finger- und Fußnägel weinrot lackiert und duftete nach Zucker und Zimt. Ihre Haut war leicht gerötet vom Rubbeln mit der Waschbürste, Slip und BH waren aus Goldbrokat.« Die Frauen sind in der Phantasie des Erzählers also ebenso gesundet, die früher magere Vegetarierin isst endlich Fleisch, die früher dreckige Schizophrene ist endlich gewaschen. Oh je.

Dieses Ende ist betrüblich, da doch der Rest der Trilogie so schön ist. Die beiden anderen Romane von Gronius seien rundweg empfohlen.

Jörg W. Gronius: Plötzlich ging alles ganz schnell. Weidle Verlag, Bonn 2007, 150 Seiten, 21 Euro

Ders.: Der Junior. Weidle Verlag, Bonn 2005, 150 Seiten, 21 Euro

Ders.: Ein Stück Malheur. Weidle Verlag, Bonn 2000, 180 Seiten, 19 Euro