Der Auftrag der Bilder

Die diesjährige Viennale widmet der proletarischen Filmkultur im Österreich der zwanziger und dreißiger Jahre eine eigene Reihe. von ramón reichert

Die proletarische Filmkultur Österreichs spielt im medialen Gedächt­nis der Gegenwart eine untergeordnete Rolle. Das hat damit zu tun, dass das Archivieren immer auch ein politischer Vorgang ist. Als Gedächtnisort ist das Archiv weniger eine neu­trale Abbildung der Gesellschaft als vielmehr ein Produkt politischer Machtverhältnisse. Erst vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum die Zerstörung zahlreicher Filmdokumen­te zur Geschichte des proletarischen Kinos in der Ersten Republik während der austrofaschistischen und der NS-Zeit oft stillschweigend über­gangen wurde.

Auf der diesjährigen Viennale bietet sich ei­ne Gelegenheit zur Rückeroberung linker Zeit­ge­schichte und Erinnerungskultur. Die Filmschau »Proletarisches Kino in Österreich« ermöglicht erstmals einen umfassenden Blick auf die Filmproduktion der österreichischen Arbeiterbewegung vom Vorabend des Ersten Weltkriegs bis zum Ende des Bürgerkriegs 1934.

Der erste Teil der Filmschau präsentiert Do­ku­mente des parteipolitischen Kampfes und ermöglicht einen Einblick in sozialistische Feiern, Festkultur und proletarische Körperkultur. Herausragend sind sowjetische Wochenschauen über die österreichische Arbeiterbewegung. Im zweiten Teil der Filmschau werden Filme gezeigt, die der Filmkritiker Fritz Rosenfeld in der Wiener Arbeiter-Zeitung rezensierte. Der gemeinsame Bezugspunkt der Werke von Charlie Chaplin, G. W. Pabst, René Clair, Olga Preobraczenskaja, Viktor Trivas und Eugene Deslaw wird in den sozialkritischen Filmanalysen von Rosenfeld herausgearbeitet. Er setzt sich mit den politischen wie künstlerischen Beschränkungen der bürgerlichen Filmindustrie auseinander und zeigt ihre Überwindung durch das sowjetische Revolutionskino und die unabhängige Produk­tion der Avantgarde auf.

Der repräsentative Querschnitt der Werke »Na­menlose Helden« (1924), »Wiener Kinder« (1927) und »Das Notizbuch des Mr. Pim« ( 1930) zeigt einen der raren Versuche, in Österreich sozialistische Spielfilme zu produzieren. Insgesamt bie­ten rund 90 Filmdokumente aus weit verstreuten Archiven und Kinematheken einen umfassenden Überblick über das filmhistorische Archiv der österreichischen Arbeiterbewegung.

Es ist vor allem parteipolitisch motivierte Identitätspolitik, die das proletarische Kino in Österreich ermöglichte und mitformte. Dennoch hat es zu keiner Zeit in der Ersten Repu­blik eine einheitliche Kultur- und Medienpolitik der Arbeiterbewegung gegeben. Im Gegenteil: Die linke Filmkultur war stets kontrovers und in sich widersprüchlich. Diese Konstellation prägt bis in die Gegenwart das filmische Gedächtnis der österreichischen Sozialdemokratie. So produzierte die Parteikulturbürokratie ausschließlich Filme, welche die erwünschte Feierkultur abbildeten. Die Kamera wurde folglich nur dort aufgestellt, wo sich die Kulturfunktionäre der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs (SDAPÖ) einen repräsentativen Mehrwert erwar­teten. So gibt es von den autochthonen Formen wilder und populärer Feste bis heute keine filmische Überlieferung.

Die Sozialdemokratie nutzte mit der im Jahr 1923 vollzogenen Gründung der »Allianz Film Fabrikations- und Vertriebsgesellschaft« den Film, um für das »Rote Wien« zu werben. Fritz Rosenfeld, Filmtheoretiker der Sozialistischen Bildungszentrale, war einer der Ersten, die versuchten, das Medium Film in die offizielle Feierkultur zu integrieren, er setzte sich für eine auto­nome Filmherstellung ein: »Filme von Mai­feiern, Jugendtagen, Sportveranstaltungen, Kin­derfesten werden sich in das Filmprogramm eingliedern.« Für ihn als Vertreter der Bildungszentrale stellte der Film das Medium zur Verein­heitlichung der Massenbewegung dar. »Der Film ermöglicht es auch, alle Feiern in einer Stadt, oder sogar in einem Land unter einen Fest­ge­dan­ken zu vereinheitlichen, auf eine Festparole abzustimmen«, schrieb Rosenfeld in seiner pro­grammatischen Schrift »Filme als Festprogramm«, die im Jahr 1929 in Kunst und Volk erschien.

Damit sollte endgültig, schreibt der Historiker Béla Rásky, »die Arbeiterkultur des Festefeierns von einer Arbeiterbewegungskultur der Feiernveranstaltung verdrängt werden«. Das identitätsstiftende Affektbild linker Filmkultur bestand aus stereotypen Bildern organisierter und disziplinierter Massen als kunstfertig ins Bild gesetzte »weltgeschichtliche Aufgabe« (Ma­nès Sperber). Bereits der 1925 gedrehte Film »Das dritte Volksfest des Republikanischen Schutz­bundes der Ortsgruppe XVI. auf der Ru­inenwiese beim Schloss Wilhelminenberg« bezeugt die offiziöse Parteidoktrin einer ordentlichen Feierkultur. Zu sehen sind sozialistische Verbände, die diszipliniert und wohlgeordnet durch die Kadrage geleitet werden. Filme der Arbeiterkultur entstanden also nur unter bestimmten Bedingungen. Eine sozialistische Feier hatte einen bildungspolitischen Auftrag zu erfüllen. In den Kategorien »Würde«, »Weihe« und »Erhabenheit« wurden sozialdemokratische Filmdokumente prämiert und erhielten das Prädikat »sehenswert«.

Der Aufbau einer Feier-Choreografie wurde in einer Zeit forciert, in der die Mitgliederzahlen der SDAPÖ stark zunahmen. Die Filme fungierten ab 1920/21 auch als eine visuelle Bewältigung der linken Massenbewegung. Damit wurde die disziplinierte und choreografierte Auf­marsch­masse allmählich als Kollektiv zum Träger der Feierkultur aufgebaut. Die von der SDAPÖ produzierten Filme über Maifeiern, Kund­gebun­gen, Begräbnisse, Massenaufmärsche, Parteitage und Großereignisse der Arbeitersport­bewegung sollten zur Veredelung der ArbeiterInnen beitragen. Bildungsbürgerliche Normen und die Stärkung des Klassengefühls prägten das weihevolle Imagedesign des sozialdemokra­tischen Arbeiterfestes. Wegen seiner teuren Produktionsbedingungen blieb der Film ein privilegiertes Instrument der Parteikader. Wilde Arbeiterfeste an der Peripherie des »Roten Wien« wurden von den Parteibehörden weit­gehend ignoriert. Das so genannte Festeln sollte nicht in die offizielle Geschichtsschreibung der Arbeiterkulturbewegung aufgenommen werden. Mit den härter werdenden parteipolitischen Auseinandersetzungen wurde in der SDAPÖ das Element des sozialistischen Sieges als »Endziel« hervorgehoben. Ab 1927 wurden bei den Jugendweihen – der sozialdemokratischen Ersatz­konfirmation – verstärkt Filme eingesetzt, »um den Vierzehnjährigen den Sozialismus in leicht verständlicher Weise näher zu bringen und die Kampfziele unserer Bewegung anschaulich zu machen« (Jahrbuch der österreichischen Arbeiterbewegung, 1928).

In diesem Kontext präsentierte man im Juni 1929 Wsewolod Pudowkins Film »Das Ende von St. Petersburg« (1927) in der Wiener Innenstadt. Die Jugendweihe war quasireligiös ausgerichtet. Im Zentrum der Filmvorführung stand das Ritual: »Wir wollen eine Stunde beisammen sein. Ganz still hinhorchen, was Musik und Gesang, Sprechchor und Redner uns sagen. Ganz still wol­len wir horchen, bis gemeinsames Lied uns stark bindet. Kein Klatschen soll stören, wenn gemeinsames tiefes Erlebnis die Stunden füllt. (Jugend­weihe 1933)«.

Ab 1930 verwandelte sich die sozialdemokratische Repräsentationskultur, die traditionell auf die innere Erbauung gesetzt hatte, in eine Agitations-, Aufmarsch- und Propagandakultur, die vor allem auf Organisierung und Disziplinie­rung setzte. Nur noch auf Außenwirkung bedacht, verlautbarte der Parteiapparat sein neues Ideal »Nicht Feier, sondern Kundgebung!«. Ab diesem Moment spielte der neue Medienver­bund – bestehend aus Film, Rundfunk und Schallplatte – eine zentrale Rolle als Agitationsinstrument und prägte dauerhaft das of­fi­ziöse Geschichtsbild der linken Arbeiterkultur der Ersten Republik.

In scharfer Abgrenzung zur sozialdemokratischen Kultur- und Bildungspolitik träumte die Kommunistische Partei Österreichs (KPÖ) von der »psychotechnischen Instrumentalisierung des Kinos für den neuen Sowjetstaat«, ana­lysiert der Historiker Peter Grabher. »Bedingungslose Affirmation der Sowjetunion, das Festhalten an der Idee einer proletarischen Revolution in Österreich und konsequenter Antifaschismus waren Charakteristika kommunis­tischer Filmarbeit.« Die KPÖ war eine Woche vor Ausrufung der Repuplik am 3. November 1918 in Wien-­Favoriten als eine der ersten kommunis­tischen Parteien weltweit gegründet wor­den. Die So­zial­demokratie wurde für ihre Unter­stüt­zung der Kriegspolitik während des Ersten Welt­kriegs scharf kritisiert. Aber auch die Gewerk­schaften erprobten mit Eigenproduktionen die Möglichkeiten des Einsatzes von Film und Kino für die politische Mobilisierung.

In der Zwischenzeit drohte jedoch das durch preisgünstige Eintrittspreise demokratisch legitimierte Kino zur »modernen Opiumhöhle des Kapitalismus« zu mutieren (Rote Fahne, 1924). Das mediale Dispositiv des neuen Massenmediums »Kino« sollte nicht in Frage gestellt, sondern »umgelenkt« werden. So wurde das Me­dium Kino weiterhin als neutral angesehen und nicht in die Kritik am bürgerlichen Film und an der bürgerlichen Ideologie einbezogen: »Wir denken uns ein geläutertes Kino, ein Kino, das ebenso wie heute den breitesten Massen zugäng­lich ist, aber zugleich den höchsten Anforderungen genügt. Ist nicht das Beste in der Kunst gerade gut genug, um den werktätigen Massen präsentiert zu werden? Wir geben in unserer Propaganda und Agitation nicht entstellten Sozialismus, nicht an die Massen ›angepassten‹ Marxismus, sondern reine marxistische Wissen­schaft in verständlicher Darstellung.« (Rote Fahne, 1924)

Mit der Inthronisation Stalins und dem gleich­zeitigen Lenin-Kult beschworen hingegen die zensierten Filme im Sowjetkino die mythische Präsenz des Arbeiter- und Bauernstaats und seiner Führerfiguren. Der Film »Sein Mahnruf« (1926), hergestellt von der Internationalen Arbeiterhilfe in Moskau, markiert den Beginn der »Russenfilm-Welle« und zeigte in der kontrastierenden Schilderung des Lebens eines jugendlichen Arbeitermädchens in Leningrad den Niedergang der weißgardistischen Emigration im Ausland und den langsamen, aber siche­ren Auf­stieg Sowjetrusslands unter Führung Le­nins. Nach einer relativ liberalen Phase unmittelbar nach der Oktoberrevolution und in den zwanziger Jahren ließ Stalin die Filmindustrie ab 1929 verstaatlichen. Während die musikalische Komödie in den zwanziger Jahren noch als der Höhepunkt bürgerlicher Verzerrung kapitalistischer Produktionsverhältnisse galt, die den Aufbau der sozialistischen Gesellschaft konterkarierte, wurde unter Stalin die bolschewistische Filmpolitik auf den Kopf gestellt und das Musical in die Arsenale der sozialistischen Film­kunst aufgenommen. Sowohl die professionelle Unterhaltung der Massen als auch die Ausbeutung der Arbeitenden ist seither kein Privileg kapitalwirtschaftlicher Sozialordnungen mehr.

Die Russland-Delegationen der KPÖ importierten die so genannten Russenfilme, die Organisation Rote Hilfe koordinierte Hunderte Filmvorführungen, die immer mehr zum Schauplatz politischer Auseinandersetzungen wurden. Im Herbst 1925 fanden die ersten Aufführungen der aus Berlin eingeführten Filme der Internationalen Arbeiterhilfe statt: »Die Arbeit der Internationalen Arbeiterhilfe« (1924), »Russische Kinderfürsorge« (1925) und »Ankunft der ersten Arbeiterdelegation in Sojwet-Russland« (1925). Die österreichischen Behörden reagierten panisch mit Aufführungsverboten.

Trotz restriktiver Aufführungsbestimmungen lief am 25. Juni 1926 »Panzerkreuzer Potemkin« in 14 ausverkauften Wiener Kinos an, erreichte ein breites Publikum und weckte die Nachfrage nach weiteren russischen Filmen. Wegen behördlicher Repressionen und fehlender Finanzmittel kam es aber zu keiner Eroberung des Films durch KP-nahe Organisationen. Sozialdemokratische und kommunistische Bildungsorganisationen stritten sich zwischen 1926 und 1933 um die Aufführungsrechte von etwa 75 »Russenfilmen«. Der publizistische Kleinkrieg um die Filme eskalierte zwischen der KPÖ-Zeitschrift Rote Fahne und der sowjetkritischen Arbeiter-Zeitung. Dabei wurde der sozialdemokratische Filmkritiker Fritz Rosenfeld immer wieder zur Zielscheibe der Polemik kommunistischer Filmbesprechungen. Auf mikropolitischer Ebene kooperierten Sozialdemokraten und Kommu­nisten jedoch im Bereich der Kulturarbeit der Roten Hilfe und der Österreichischen Arbeiterhilfe.

Auf dem 6. Weltkongress der Komintern im Sommer 1928 wurden die sozialdemokratischen Parteien immer noch zu Saboteuren der kommunistischen Weltrevolution stilisiert. Wenig später dokumentierte die sowjetische Wochenschau Sovkino Journal den Aufmarsch faschistischer Heimwehren in der Wiener Neustadt am 7. Oktober 1928. Obwohl sozialdemokratische Organisationen den Gewaltakten der Heimwehr­einheiten ausgesetzt waren, bezeichneten die KP-Presseorgane weiterhin die Sozialdemokraten als wichtigste Stütze der Bourgeoisie und des Faschismus. Mit dem Regierungsantritt der christlich-sozialen Partei unter Engelbert Dollfuß am 20. Mai 1932 verstärkte sich die Präsenz faschistischer Filmpropaganda in den Wiener Kinos. Im Frühjahr 1933 waren Beschlagnahmen und Verhaftungen an der Tagesordnung, und am 20. Mai 1933 wurde die Rote Hilfe vom austrofaschistischen Regime Dollfuß verboten. Damit wurden proletarische Kino-, Verleih- und Produktionsstrukturen als staatsfeindlich eingestuft und zum Ziel polizeilicher Verfolgung.