Ein bürgerliches Selbstgespräch

Bei der Debatte über die RAF wird der Zustand der postfaschistischen Gesellschaft regelmäßig ausgeblendet. Es geht offenbar nicht darum, die damaligen Ereignisse zu verstehen, sondern um die eigenen Befindlichkeiten. von anton landgraf

Kaum ein Medium verzichtete in den vergangenen Wochen auf eine umfangreiche Chronologie der RAF-Geschichte. In unzähligen Beiträgen orakelten Feuilletonisten und Kommentatoren, wie es dazu kommen konnte, dass Söhne und Töchter aus gutem Hause auf solche Abwege gerieten. Mancher kramte tief im Gedächtnis, um seine Jugendsünden zu beichten. »Näher bin ich dem Terrorismus nicht gekommen«, erzählt etwa Harald Jähner, Feuilleton-Chef in der Berliner Zeitung, »als während der Tage im Oktober 1974, in denen ich für Holger Meins in den Hungerstreik trat.« Er tat es freilich nur, um seiner verflossenen Freundin nahe zu sein, die sich ebenfalls im Streik befand. Und wie viele andere auch beschreibt er anschließend den »langen Marsch in die Realität«, den seine Generation angetreten habe: die Abkehr von totalitären Versuchungen und ideologischen Wahnvorstellungen, die der Linksradikalismus in ihrer Jugend offerierte.

Der Hinweis, dass die RAF die extremste Herausforderung für den Rechtsstaat darstellte, macht dabei zumeist jede weitere Auseinandersetzung mit den historischen Begleitumständen überflüssig. Nur gelegentlich erinnern manche, wie der ehemalige FDP-Innenminister Gerhart Baum, an eine »moralische Begründung zumindest der ersten Generation der RAF«, die in der Empörung über eine mangelhafte Aufarbeitung der NS-Vergangenheit gelegen habe.

Dabei wurde fast zeitgleich mit der aktuellen RAF-Debatte eine andere historische Aufarbeitung präsentiert, die eine enge Verbindung zu den damaligen Ereignissen aufweist. Unter dem Titel »Die Historie des BKA: Verbindungslinien zum NS-Regime« hat das Bundeskriminalamt (BKA) im September eine Studie veröffentlicht, die sich mit der Entstehungsgeschichte des Amtes beschäftigt. Immerhin handelt es sich dabei um die Institution, die wesentlich für die Bekämpfung der RAF zuständig war, das »scharfe Schwert der Demokratie« sozusagen. Umso verwunderlicher ist es, dass die Studie ohne jeden Zusammenhang zu den damaligen Ereignissen besprochen wurde – als hätten RAF und BKA zu völlig unterschiedlichen Zeiten existiert.

Die Untersuchung beschäftigt sich mit der Frage, welche Rolle die ehemaligen Mitarbeiter von NS-Organisationen im BKA spielten. Demnach war das BKA von seiner Gründung an bis Anfang der siebziger Jahre maßgeblich von früheren SS-Angehörigen geprägt worden, die ihre Karriere im Reichssicherheitshauptamt, der Organisationszentrale des Holocaust, begonnen hatten. So besaßen Ende der fünfziger Jahre von den 47 Beamten in der BKA-Führungsetage nur zwei keine Nazi-Vergangenheit. Viele hatten ihr Handwerk bei der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) gelernt, bei den SS-Einsatzgruppen oder der Geheimen Feldpolizei, die vor allem in Weißrussland die jüdische Bevölkerung massakriert hatte.

Die Ergebnisse der Studie sind nicht neu. Bereits vor sechs Jahren hatte Dieter Schenk, selbst ehemaliger BKA-Mitarbeiter, in seinem Buch »Die braunen Wurzeln des BKA« die Historie des Amtes akribisch recherchiert. Anhand einzelner Biografien beschrieb er darin eine Institution, in der es von Kriegsverbrechern und Massenmördern nur so wimmelte. So zum Beispiel SS-Sturmbannführer Kurt Amend, der für den nationalsozialistischen Terrorapparat die Fahndung organisiert hatte. Im Reichssicherheitshauptamt jagte er normale Kriminelle, aber auch Deserteure, untergetauchte Juden und so genannte Asoziale. Nach Einschätzung von Schenk »dürfte er Hunderttausende auf dem Gewissen haben«. Zehn Jahre später findet man Amend beim Bundeskriminalamt als Chef-Fahnder des Hauses. 1964 wurde er pensioniert, ohne jemals von der Justiz behelligt worden zu sein.

Zum Führungspersonal des BKA gehörte auch Paul Niggemeyer, Mitverfasser eines zuletzt 1973 in unveränderter Ausgabe erschienenen Leitfadens für BKA-Beamte. Er gründete das Kriminalistische Institut des BKA. In der Nazizeit war er SS-Sturmbannführer und leitender Feldpolizeidirektor der Heeresgruppe Mitte in Russland.Männer wie Amend oder Niggemeyer waren im Bundeskriminalamt nicht Ausnahmen, sondern die Regel. Und auch in den anderen Polizei-Institutionen sah es nicht besser aus. Die Landeskriminalämter rekrutierten ihre Leitungskader ebenso wie der Bundesnachrichtendienst – ehemals »Organisation Gehlen« – oder die »Sicherungsgruppe Bonn« vorwiegend aus dem Personal der Gestapo, der Geheimen Feldpolizei und aus Angehörigen der SS- und SD-Einsatzgruppen, die in den von der Wehrmacht eroberten Gebieten unvorstellbare Vernichtungsaktionen durchgeführt hatten.

Erst unter dem neuen BKA-Chef Horst Herold, der in den siebziger Jahren die Fahndung nach der RAF neu organisierte und später als Lichtgestalt einer modernen Polizeiführung gelobt wurde, wechselte das Führungspersonal des Hauses. Dies änderte jedoch nichts daran, dass keiner der belasteten BKA-Mitarbeiter irgendwelche Konsequenzen zu befürchten hatte. Nachfragen und Recherchen wurden so lange unterbunden, bis niemand mehr belangt werden konnte. Als die PDS-Fraktion 2001 im Bundestag eine Kleine Anfrage wegen eventueller Straf- und Disziplinar­verfahren gegen BKA-Mitarbeiter aufgrund ihrer Beteiligung an NS-Verbrechen stellte, erhielt sie zur Antwort, dass bis »auf zwei« alle Beteiligten des in »Betracht genommenen Personenkreises verstorben« seien.

Auch wenn die Spitzen erneuert wurden, das Feindbild blieb das alte. Selbst als in den achtziger Jahren bereits mehr Morde durch Rechtsex­tremis­ten als durch Linke verübt wurden, änderte sich daran nichts. Noch Anfang der neunziger Jahre wurden 16mal so viele Beamte eingesetzt, wenn es sich um Straftaten der linken Seite handelte, zehn Jahre später waren es immer noch fünfmal soviel. »Wenn heute 60 Beamtinnen und Beamte des BKA gegen Rechtsradikalismus eingesetzt werden, ist das zu begrüßen. Man muss kein Prophet sein zu behaupten, dass es 300 Bedienstete wären, wenn sich dieselben Erscheinungen im linken Spektrum abspielten«, schrieb Schenk anlässlich des 50. Geburtstags des BKA 2001 in der Frankfurter Rundschau.

Die Selbstgewissheit im Feindbild galt allerdings auch für die RAF. In deren Theorie, in der – abgesehen von den »Volksmassen« – vom Briefträger bis zum Bundeskanzler alle und jeder irgendwie faschistisch war, wäre es vermutlich gleichgültig gewesen, wenn die BKA-Führung ihre Mitarbeiter aus einem unverfänglicherem Milieu als der Gestapo und der SS rekrutiert hätte. Zudem entpuppte sich der antifaschistische Anspruch der RAF schon bald als eine sehr eigentümlich deutsche Ideologie, etwa, als Ulrike Meinhof das Massaker an der israelischen Olympia-Mannschaft 1972 durch Mitglieder des »Schwarzen Septembers« als »gleichzeitig antiimperialistisch, antifaschistisch und internationalistisch« pries und »Israels Nazi-Faschismus« anprangerte.

Dennoch ist die Entstehung der RAF ohne die Bedingungen der postnazistischen deutschen Nachkriegsgesellschaft nicht zu verstehen, zu einer Zeit also, als viele der damaligen Verteidiger des viel beschworenen Rechtsstaats noch vom Geiste des Reichsicherhauptamts geprägt waren. Diesen Teil der Geschichte auszublenden ist ein wesentliches Merkmal der aktuellen Debatten um die RAF, bei der es weniger darum geht, die damaligen Ereignisse zu verstehen, als vielmehr um die eigenen Befindlichkeiten. So dient der »lange Marsch in die Realität« vor allem der Selbstvergewisserung linksliberaler Kreise, den Jugendsünden abgeschworen und den Frieden mit sich und dem Staat gefunden zu haben: die RAF-Debatte als bürgerliches Selbstgespräch.