Stuttgart vor der Verwüstung

Der Streit um den Umbau des Stuttgarter Hauptbahnhofs geht in eine neue Runde. Der Gemeinderat hat die finanzielle Beteiligung der Stadt an dem »Jahrhundertprojekt« beschlossen. Von Hansjörg Fröhlich

Es geht um 280 Millionen Euro. Diese Summe wird die Stadt Stuttgart zur Finanzierung des Projekts »Stuttgart 21« beitragen. Anfang des Monats unterzeichnete Oberbürgermeister Wolfgang Schuster (CDU) mit den Vertretern der Landesregierung und des Regionalparlaments eine so genannte Ergänzungsvereinbarung zur Finanzierung. Anträge der Grünen und eines Stadtrats der Liste »Stuttgart Ökologisch Sozial« (SÖS) für einen Bürgerentscheid waren von den Befürwortern des Projekts, den Gemeinderäten von CDU, FDP, SPD und den »Freien Wählern«, am Tag zuvor abgelehnt worden.

Die Gegner des Projekts, unter anderem die Grünen, der Bund für Umwelt und Naturschutz, die Initiative Pro Bahn und der Verkehrsclub Deutschland, haben davon unbeeindruckt eine Unterschriftenaktion gestartet. Sie wollen bis zum 9. November 20 000 Unterschriften sammeln, um einen Bürgerentscheid zu erzwingen. Dies scheint derzeit nicht unrealistisch. Allein auf einer Kundgebung Ende September versammelten sich rund 5 000 Stuttgarter vor dem Rathaus, um gegen das Großprojekt zu demonstrieren. Auch zur oben genannten Gemeinderatssitzung waren trotz ungünstiger Tageszeit 500 Leute erschienen, um die Aussagen von Oberbürgermeister Schuster lautstark zu kommentieren.

Dieser wirft den Grünen und anderen Gegnern des Projekts vor, gemeinsame Sache mit »Linksradikalen« zu machen, deren »Sprüche an der Grenze zur Beleidigung liegen«. Er hält seinen Gegnern vor, ihre Öffentlichkeitsarbeit habe »mit sachlicher Information nichts mehr zu tun«, sondern sei »Demagogie und Ideologie«.

Mit »sachlicher Information« warten die Befürworter des Projekts allerdings auch nicht gerade auf. Ein im Bahnhof seit Jahren ausgestelltes Modell des neuen, tiefergelegten Bahnhofs und der Neubauten auf dem bisherigen Gleisvorfeld sei nicht maßstabsgerecht, behauptet etwa der Architekt Roland Ostertag. Tatsächlich erscheinen die versiegelten Flächen kleiner und der Flächenverlust im Stadtpark, dem einzigen zusammenhängenden Grünstreifen der Stadt, ist nicht annähernd zu erkennen. In den als Teil einer Imagekampagne veröffentlichten Videofilmen über das Projekt gewinnt man den Eindruck, der Umbau des Bahnhofs und des angrenzenden Stadtteils sei ein Leichtes und würde in etwa der Renovierung eines Hallenbads gleichkommen. Kein Wort über die zu erwartenden extremen Verkehrsbelastungen während der zwölfjährigen Bauzeit. Täglich sollen Tausende Lastwagen Aushub aus dem Talkessel Stuttgarts abtransportieren; über Jahre hinweg werden mindestens zwei Stadtbahnlinien ausfallen.

In der Frage der Öffentlichkeitsarbeit gehen die Gegner des neuen Bahnhofs derzeit geschickter vor. Ihre Informationskampagne hat viele Stuttgarter erreicht. Schuster und die Befürworter des Projekts haben dieses Defizit nun offenbar erkannt. Auf der Gemeinderatssitzung wurde neben den Mitteln für den Umbau auch gleich noch eine Million Euro für Öffentlichkeitsarbeit bewilligt. Dieses Geld wird dann darauf verwendet, den Stuttgartern möglichst schonend beizubringen, wie sich ihre Stadt im nächsten Jahrzehnt verändern wird. Denn das Bürgerbegehren und ein möglicherweise dadurch erzwungener Bürgerentscheid können das Projekt als Ganzes nicht mehr verhindern, da es dabei nur um die Frage der Finanzierung geht. Sollte es zu einer Bürger­abstimmung kommen, wären, irgendwann im nächsten Frühjahr, 100 000 Stimmen nötig, um die finanzielle Beteiligung der Stadt zu verhindern. Doch selbst für diesen Fall haben die Interessenvertreter von Land, Region, Stadt, Bauwirtschaft und Immobilienbranche vorgesorgt: Dann kommt die »Günther-Lösung«. Ministerpräsident Günther Oettinger hat bereits vor Wochen angekündigt, das Land werde den Kostenanteil der Stadt übernehmen, falls diese aussteige. Das »Jahrhundertprojekt« dürfe nicht gefährdet werden.

Allerdings wäre eine Realisierung des Projekts gegen den in einer Abstimmung erklärten Willen der Stuttgarter ein Affront im sonst so auf Interessenausgleich bedachten Städtle. Der Schock, von Politikern ignoriert zu werden, die so mancher Wähler hier noch vertrauensvoll per Vornamen anspricht, könnte eventuell bis zu den Kommunal- und Landtagswahlen 2009 bzw. 2011 tragen. Zumal dann die Baumaßnahmen begonnen haben und Stuttgart in Stau, Staub und Lärm versinken wird.