Anpassung nach unten
Ein Mann sah rot. »Wenn die Gewerkschaften die Kraftprobe wollen, bin ich bereit«, tobte er. »Zwei Monate ohne Züge? Nun gut, dann wird es eben zwei Monate ohne Züge geben. Oder eher, zwei Monate ohne die Eisenbahner. Ich werde die Aufrechterhaltung des Mindestbetriebs durchsetzen, wenn es sein muss mit der Armee.« Mit diesen Worten, die im Kreise seiner Berater fielen, wurde Präsident Nicolas Sarkozy am 10. Oktober in der investigativen Wochenzeitung Le Canard enchaîné zitiert.
Auf dem Spiel steht aus der Sicht Sarkozys mehr als nur ein Arbeitskampf um eine so genannte Reform. Es handelt sich vielmehr um die Mutter aller Reformen.
An dem Versuch, die régimes spéciaux genannten Sonderregelungen zur Rente bestimmter Berufsgruppen, insbesondere der französischen Transportarbeiter, abzuschaffen, ist schon manche Regierung gescheitert. So wie Premierminister Alain Juppé im Herbst 1995, der entsprechende Pläne ersatzlos zurückziehen musste und zudem durch diese Niederlage geschwächt wurde, was die Entwicklung sozialer Bewegungen begünstigte – von der antifaschistischen Bewegung über die Solidarität mit den illegalisierten Einwanderern bis hin zu gewerkschaftlichen Kämpfen.
Dereinst mussten die meisten Lohnabhängigen in Frankreich 37,5 Jahre lang in die Rentenkasse einzahlen, um eine volle Pension zu beziehen. Erstmals wurde diese Regel 1993 von der konservativen Regierung von Edouard Balladur geändert. Die Beschäftigten im privaten Industrie- oder Dienstleistungsgewerbe mussten künftig 40 Jahre einzahlen. Für die Staatsbediensteten blieb es bei 37,5 Jahren.
Die Privatbeschäftigten wurden während der tiefen Rezession der Jahre 1992/93, die von einem extremen Anstieg der Arbeitslosigkeit begleitet war, weitgehend in die Defensive gedrängt. An die Beschäftigten im öffentlichen Dienst und ihre Gewerkschaften wagte die Regierung sich zunächst noch nicht heran.
Aber das Kabinett Balladur hatte einen Anfang gemacht und einen Vorwand geschaffen, um die Regelungen für den öffentlichen Dienst zu einem späteren Zeitpunkt anzugreifen. Zehn Jahre später versuchte die konservative Nachfolgeregierung unter Jean-Pierre Raffarin, den Sozialneid anzufachen, indem sie die öffentlich Bediensteten – Lehrer, Krankenschwestern, Archäologen – als »Privilegierte« hinstellte, die nur für ihre Besitzstandswahrung streikten. Zum Teil ging diese Rechnung auf, obwohl die Reform des Jahres 2003 für alle Lohn- und Gehaltsempfänger, auch jene im Privatsektor, Verschlechterungen mit sich brachte. Denn für alle Beschäftigtengruppen sollte die Anzahl der obligatorischen Beitragsjahre nun bis auf 42,5 angehoben werden.
Es blieben jene Lohnabhängigen übrig, die unter Sonderregelungen fallen. Diese régimes spéciaux stammen zum Gutteil aus der Zeit unmittelbar nach 1945, als im Rahmen des »historischen Kompromisses« zwischen Kommunisten und Gaullisten entschieden wurde, Bereiche wie Transport und Energieversorgung dem Privatsektor und den Marktgesetzen zu entziehen. Zudem rechtfertigte sich die Regelung, dass etwa die Eisenbahner früher – mit 55, die Lokführer schon ab 50 Jahren – in Rente gehen durften, mit den damals besonders harten Arbeitsbedingungen auf den Dampflokomotiven. Später dienten die im öffentlichen Dienst errungenen Arbeitsbedingungen den Gewerkschaften in anderen Sektoren dazu, in Arbeitskämpfen und Verhandlungen ähnliche Bestimmungen zu fordern. So sollten alle Berufsgruppen durch »Anpassung nach oben« ihre Lage verbessern können.
Nun hat die Regierung sich das Gegenteil zum Ziel gesetzt, also für alle Lohnabhängigen durch »Anpassung nach unten« die Bedingungen zu nivellieren. Wer sich dem widersetzt, wird als »Verteidiger ungerechtfertiger Privilegien« gescholten. Nur zwei Gruppen, die neben Eisenbahnern, Metro-Beschäftigten, den Mitarbeitern von Pariser Operhäusern und der schwindenden Zahl von Bergleuten ebenfalls von Sonderregelungen bei der Rente profitieren, bleiben dabei zur Zeit völlig ausgeklammert. Es handelt sich um hauptberufliche Militärs und Abgeordnete.
Besonders harte Arbeitsbedingungen gebe es bei den Eisenbahnern nicht mehr, meint die Regierung. Stattdessen will man überlegen, wer »wirklich unter erschwerten Bedingungen hart arbeitet« und deshalb eine Sonderregelung verdiene. Bisher ist das allerdings nur Rhetorik. Die Eisenbahner sollen ihre günstigere Rentenregelung verlieren, dass stattdessen andere hart arbeitende Gruppen in die Gunst früherer Renten kommen, ist zu bezweifeln. Was den antifaschistischen Sozialkompromiss der Nachkriegszeit betrifft, so hat Denis Kessler, der Chefideologe des Unternehmerverbands Medef, am 4. Oktober im Wochenmagazin Challenges erklärt, man müsse endlich »das Programm des Nationalen Rats der Résistance von 1944« demolieren, »um Frankreich zukunftsfähig zu machen«.
Wie reagiert die französische Öffentlichkeit auf diese Pläne? Je nachdem, wie die Frage formuliert wird, können die Antworten unterschiedlich ausfallen. Die KP-nahe Tageszeitung L’Humanité erfuhr in einer Umfrage, dass 54 Prozent der Befragten den Streik der Eisenbahner vom vergangenen Donnerstag unterstützten. Hingegen will die kostenlose Tageszeitung Métro, die wirtschaftsliberaler Propaganda verpflichtet ist, herausgefunden haben, dass 61 Prozent ihn ablehnten.
Der Ausstand am Donnerstag der vergangenen Woche legte das öffentliche Transportsystem lahm. Die Streikbeteiligung von 73,5 Prozent – den Angaben der Bahngesellschaft SNCF zufolge – ist ein historischer Rekord, wie er seit den dreißiger Jahren nicht erreicht wurde. Beim Transportstreik im Spätherbst 1995 waren es noch 67 Prozent gewesen. Die Beteiligung an den Demonstrationen war hingegen relativ schwach, mit 150 000 Personen auf der Straße der Polizei zufolge und 300 000 nach Angaben der CGT. Es fiel jedoch auf, dass bei weitem nicht nur Transportbeschäftigte auf der Straße waren, sondern eine Vielzahl sozialer Gruppen, die mehrheitlich nicht von den régimes spéciaux betroffen sind.
Die Demonstrierenden hatten verstanden, dass es nicht nur um die Interessen einer oder zweier Berufsgruppen geht. Nicolas Sarkozy möchte unbedingt seine »Durchsetzungsfähigkeit« mit der Abschaffung der »Sonderregelungen« bei den Renten beweisen. Eine solche Machtdemonstration wäre eine Ausgangsbasis, um das soziale Kräfteverhältnis insgesamt zugunsten von Regierung und Kapital zu ändern. Noch ist es nicht so weit. In der laufenden Woche wird sich entscheiden, ob die Regierung sich doch noch auf ernsthafte Verhandlungen mit den Gewerkschaften einlässt, wie diese fordern – oder ob der Streik wieder aufgenommen wird.