Die Kirche und die Mörder

Seit dem Genozid im Jahr 1994 konvertieren in Ruanda mehr Menschen zum Islam. Dies hat in den meisten Fällen mit der Rolle zu tun, die Christen im Völkermord gespielt haben. Inzwischen sind Fälle dokumentiert, in denen Tutsi, die in Kirchen Unterschlupf gefunden hatten, von christlichen Geistlichen den Todeskommandos der Hutu ausgeliefert wurden. von Benjamin Kumpf, kigali

Über die Frage, welches Viertel Kigalis das hipste ist, läßt sich streiten: Während die meisten Europäer gemeinsam mit Präsident Paul Kagame im schicken Kiyovu residieren, zieht es die ruandische Oberschicht in Richtung Golfplatz am Stadtrand. Unter den meisten Jugendlichen der Haupt­stadt fällt die Antwort jedoch eindeutig aus: Nyamirambo, das an die Innenstadt angrenzende muslimische Viertel, ist der place-to-be. Nach Ladenschluss leeren sich die Straßen in praktisch allen Stadtteilen minutenschnell, nicht jedoch in Nyamirambo. Hier bieten die aus der Innenstadt längst vertriebenen Straßenhändler gefälschte Mar­kenschuhe an, Kleider-Boutiquen und Fri­seur­salons haben bis in die Nacht geöffnet, Restaurants und Milchbars sind voller Menschen. Die wichtigsten Markenzeichen Nyamirambos sind die Masdjid-Alfat’h-Moschee am Eingang des Quartiers und die aufwändig dekorierten Busse, die das Viertel mit dem Rest der Stadt verbinden. In keinem anderen Stadtteil sind Busfahrer kleine Stars wie hier, und in keinem anderen Stadtteil werden die Busse mit den Farben und Logos von britischen Fußballmannschaften wie Chelsea, Liverpool und Arsenal verziert. Auch 50 Cent, Snoop Dogg, R. Kelly und andere mainstream HipHop-Stars sind beliebte Dekorations­figuren für die Kleinbusse.

Der 28jährige Jamel Niragira wohnt seit September 1994 in Nyamirambo, er ist ein dubai – so wer­­den die aus dem Kongo zurückgekehrten Tutsi von den Ruandern genannt. Zwei Jahre nach seiner Ankunft in Kigali konvertierte Jamel zum Islam. »Ausschlaggebend für meine Entscheidung war vor allem das Verhalten der Kirche während des Genozids. Als ich 1994 hier ankam, wurde nach und nach deutlich, dass viele Priester mit den génocidaires gearbeitet haben. Für mich war klar, dass ich in einer Kirche, in der Menschen mit der Unterstützung der Geistlichen ermordet wurden, nicht mehr zu Gott finden kann.«

Wie viele Menschen sich nach dem Völkermord von der Kirche abwandten und zum Islam übertraten, ist nicht belegt. Nach Aussagen sowohl christlicher wie auch muslimischer Geist­licher konvertierten in den Jahren nach den Massakern wohl einige tausend Menschen. Der Hauptgrund für den Anstieg der Übertritte ist das Verhalten der meisten Muslime und der Imame während des Massenmords in der kollektiven Erinnerung. Während sich viele kirchliche Würdenträger passiv verhielten und in etlichen Fällen auch aktiv an dem Völkermord beteiligten und eng mit den lokalen Autoritäten kooperierten, ist bislang kein Fall bekannt, in dem ein Imam mit den Mördern gemeinsame Sache machte und die Massaker unterstützte. In den 100 Tagen des Mordens wurden zwar auch etliche Nonnen, Pfarrer und Priester von den Milizen umgebracht, aber in Erinnerung blieben die Geistlichen, die den Mördern die Tore öffneten.

Seit 1959 gab es in Ruanda immer wieder Massaker an Tutsi, bis zum Beginn des akribisch geplanten Genozids im April 1994 stellten Kirchen jedoch immer einen sicheren Fluchtpunkt dar. Dementsprechend flüchteten sich überall im Land Hunderttausende in die Gotteshäuser und vertrauten auf den Schutz der Kirche, vergeblich. Betrachtet man heute eine Karte mit den Orten der größten Massaker, sieht man gleichzeitig ein Verzeichnis der größten Kirchen des Landes vor sich.

Seit vier Jahren hält sich Jamel nun an die muslimischen Vorschriften während des Ramadan: kein Essen und Trinken solange die Sonne am Himmel steht, kein Tanz, kein Sex, täglich die fünf obligatorischen Gebete. Das Mittagsgebet verrichtet er mit Hunderten anderen Muslimen in der Moschee. Dutzende Männer stehen in der prallen Mittagssonne vor dem überfüllten Gebäude und beten notgedrungen im Freien.

Die Masdjid-Alfat’h-Moschee wurde 1994 Ort des Tötens. Nach dem Beginn der Massaker flüch­teten sich mehrere hundert Tutsi, Muslime wie Nicht-Muslime, in das Gebäude. Nach einigen Tagen riefen die Moderatoren des Radios RTLM die Milizen dazu auf, die in die Moschee geflüchteten Menschen umzubringen. Nur wenige Stunden später erschienen Soldaten gemeinsam mit Interahamwe-Milizen und ermordeten die circa 300 Tutsi aus Nyamirambo mit Maschinengewehren und Granaten. Zuvor hatte der Imam der Moschee vergeblich versucht, die Bewaffneten von ihrem Vorhaben abzubringen. Auch in anderen Moscheen sprachen sich Imame während der Predigten gegen das Morden aus, eine damals durchaus lebensbedrohliche Form der politischen Artikulation.

Die Gründe für das Verhalten der Mehrheit der Muslime liegen in ihrer bereits in der Kolonialzeit begonnenen Diskriminierung und der daraus entstandenen Identitätskonstruktion der ruandischen Muslime. Importiert wurde der Islam bereits vor der Ankunft der ersten Euro­päer von arabischen Händlern, die auf der Suche nach Elfenbein, Stoffen und Sklaven waren. Mit dem Eintreffen der Deutschen und dem Beginn der in­direkten Herrschaft öffneten sich die Tore für die arabischen Handelstreibenden noch weiter. Zudem kontrollierte das Deutsche Reich seine Kolonie Ruanda-Urundi durch eine Schutztruppe, die sich hauptsächlich aus muslimischen Sudanesen, später dann aus muslimischen Ost­afrikanern zusammensetzte. Obwohl sowohl die Händ­ler als auch die Mitglieder der Schutztruppen die einfache ruandische Bevölkerung ausbeuteten und für Plünderungen und Vergewaltigungen bekannt waren, ist das Image der Verbreiter des Islam im heutigen Ruanda kein negatives.

Ebenso verhält es sich allerdings auch mit dem christlichen Glauben. In den vergangenen Jahren nahm die Bezugnahme auf die »ursprüng­lichen ruandischen Werte« im offiziellen Diskurs kontinuierlich zu. Insbesondere Paul Kagame und andere Regierungsvertreter verpassen kaum eine Gelegenheit, darauf hinzuweisen, dass die Idee eines ethnischen Unterschieds zwischen Hutu und Tutsi von den Kolonialmächten eingeführt wurde. Das vorkoloniale Ruanda wird dabei als Hort der Harmonie dargestellt, den es wiederherzustellen gelte, koloniale Einflüsse auf die Kultur müssten dementsprechend abgestreift werden. Auch die Unterdrückung der Hutu, damals noch eine von verschiedenen Tutsi-Monarchen eingeführte soziale Bezeichnung für die Beherrschten, gilt als Dogma im offiziellen Diskurs. Dass das Christentum zu den Importen der Kolonialherren gehört, wird ebenfalls nicht reflektiert, der christliche Glaube steht nicht zur Diskussion. So war Ruanda für die Missionare auch eine Erfolgsgeschichte, kaum ein anderes afrikanisches Land wurde so durchdringend von der heiligen Dreifaltigkeit überzeugt.

Heute liegt der christliche Anteil der Bevölkerung zwischen 75 und 85 Prozent, über den Anteil der Muslime an der Gesamtbevölkerung existieren unterschiedliche Angaben, der Prozentsatz liegt irgendwo zwischen fünf und 15 Prozent, davon sind praktisch alle Sunniten.

Während sowohl die deutschen als auch später die belgischen Kolonialherren die Ausbreitung des Christentums forcierten, wurden die wenigen ruandischen Muslime an den Rand der Gesellschaft gedrängt. In den Städten wurden separate muslimische Viertel eingerichtet, Landbesitz wurde Muslimen ebenso verwehrt wie der Zugang zu weiterführender Bildung. Für die zum Islam konvertierten Ruander bedeutete dies in den meisten Fällen auch einen Wandel von Hutu oder Tutsi hin zu Muslim. Identitätsstiftend wurde die Zugehörigkeit zu der unterdrückten Minderheit.

Nach der Unabhängigkeit 1962 wur­den Muslime weiter aus dem Bildungsbereich ausgeschlossen, zudem agitierte die an die Macht gekommene Hutu-Regierung stellenweise offen gegen die muslimische Gemeinde. Dementsprechend fühlte sich der Großteil der Muslime weniger von der Ideologie der Hutu-Power-Bewegung angesprochen und partizipierte in weitaus geringerem Ausmaß an den Morden.

Es existiert außerdem eine Vielzahl von Zeugenaussagen überlebender Tutsi, die ihr Leben der Hilfe von muslimischen Hutu zu verdanken haben.

Djalia Assuman, eine 40jährige Tutsi, erzählt ihre Geschichte in einem Restaurant in Nyamirambo, das von senegalesischen Muslimen betrieben wird: »Mein Mann ist Hutu, und 1994 lebten wir in einem kleinen Dorf südlich von Gitarama. Als das Morden begann, flüchteten wir zu unseren Nachbarn, mit denen wir schon immer in der Moschee gebetet haben. Sie sind auch Hutu, aber wir haben uns immer als Muslime betrachet und keinen Unterschied zwischen Hutu und Tutsi gemacht. Als schließlich drei Interahamwe-Soldaten mit Macheten kamen, um mich zu töten, haben mein Mann und unsere Freunde auch Macheten genommen und den Männern gesagt, dass sie sterben werden, wenn sie mich anrühren. Dann sind die génocidaires wieder gegangen, und wir haben uns gemeinsam bis zum Ende des Genozids versteckt«.

Nach der Eroberung Ruandas durch die Tutsi-Rebellenarmee FPR (Front Patriotique Rwandais), die bis heute die Regierung stellt, wandelte sich die gesellschaftliche Stellung der Muslime grund­legend. Die FPR würdigte das Verhalten der muslimischen Gemeinde in mehreren öffentlichen Äußerungen und verweist bis heute auf die Vorbildfunktion der Muslime im Versöhnungsprozess. Die diskriminierenden Gesetze wurden aufgehoben, ein Ministerposten ist heute mit einem Muslim besetzt. In einem Interview mit der Wa­shington Post im September 2004 berichtete der Imam Sheikh Saleh von einem Heiligen Krieg »der etwas anderen Art« in Ruanda: »Wir haben unseren eigenen Jihad, und das ist unser Krieg gegen die Ignoranz zwischen Hutu und Tutsi. Es ist unser Kampf der Heilung.«

Unumstritten ist die kollektive Erinnerung an das Verhalten der Muslime jedoch nicht. Myuco Dusambere, selbst Muslim und Überlebender des Genozids, zweifelt an der offiziellen Darstellung: »Viele Muslime, gerade aus Nyamirambo, haben sich durchaus an dem Morden beteiligt. Aber sie sind in andere Stadtteile gefahren und haben nicht die eigenen Nachbarn erschlagen.« Letztlich glaubt aber auch Dusambere, dass sich Muslime insgesamt weniger schuldig gemacht haben, nicht zuletzt, da die meisten Muslime in der Stadt lebten und daher nicht ihre Nachbarn umbrachten, um sich deren Land anzueignen.

Der bekannteste Täter muslimischen Glaubens ist Hassan Ngeze, ehemaliger Chefredakteur der Propagandazeitschrift Kangura und Verfasser eines Pamphlets mit dem Titel »Die Zehn Gebote des Hutu«. Der Ende 1990 veröffentlichte Text erlangte ungeheure Popularität und wurde zum Grundsatzpapier des rassistischen Mordens. Das achte und am meisten zitierte Gebot lautete: »Hutu dürfen gegenüber Tutsi kein Mitleid mehr zeigen!« Nach der Gründung von Radio RTLM im Jahr 1993 wurde Ngeze Korrespondent, später nahm er persönlich an den Massakern teil, als Anführer einer Einheit der Interahamwe-Miliz. Bis zu seiner Festnahme 1997 konnte er sich in Kenia verstecken und veröffentlichte weiter seine Zeitschrift, in der er den Genozid leugnete. An seinem Prozess vor dem Internationalen Kriegsverbrechertribunal im tansanischen Arusha nahm Ngeze demonstrativ in traditioneller muslimischer Kleidung teil und wurde 2003 schließlich zu lebenslanger Haft verurteilt.

Jamel Niragira kennt die Geschichte von Hassan Ngeze ebenso wie fast alle anderen jungen Menschen in Kigali, die Erinnerung an den Genozid ist nach wie vor präsent. Für besonders aussagekräftig hält er den Fall jedoch nicht: »Viele Muslime haben getötet, so wie eben viele Christen auch gemordet haben. Letztlich haben sie sich alle gegen die Lehren ihrer Religion gewandt.«

Die Auslegung des Islam ist im heutigen Ruanda, insbesondere unter den Jugendlichen, relativ entspannt. Unter den jungen Frauen tragen viele den Schleier als Mode-Accessoire und legen das Kleidungsstück durchaus auch für einige Wochen wieder ab. Auch das Sexualverhalten der jungen Muslime unterscheidet sich kaum von dem der anderen Jugendlichen, zumindest in den Städten. »Hier hält sich eigentlich kaum jemand an das Gebot, keinen Sex vor der Ehe zu haben, auch die jungen Muslima nicht«, erzählt er. »Aber ein echter Muslim praktiziert keinen Oralsex«, fügt er noch etwas verlegen bei einem Spaziergang durch Nyamirambo hinzu. In den zahlreichen Kleidergeschäften in dem Viertel finden sich auffallend wenige Bin-Laden-T-Shirts oder andere al-Qaida-Gadgets im Vergleich zu anderen Städten in Ost­afrika. Insgesamt scheinen wahhabitische Einflüsse kaum in die Lehren der ruandischen Imame einzudringen. Zwar findet sich gerade bei jungen Männern eine diffuse Solidarität mit »den Palästinensern« und eine Abneigung gegen die amerikanische Politik in Afghanistan und im Irak. Eine Auswirkung auf das Alltagsleben oder politische Aktivitäten ist aber bisher nicht zu beobachten. Vielmehr wird die amerikanische Militärpräsenz in Ruanda allgemein als Garantie für Sicherheit begrüßt, und auch Fanta, 50 Cent und (gefälschte) Nike-Schuhe sind kaum mehr aus dem Leben der meisten jungen Muslime in der Hauptstadt wegzudenken.

Zwar versuchen immer mehr muslimische Verbände aus Saudi-Arabien und Pakistan, Einfluss auf die islamischen Organisationen in Ruanda zu nehmen, aber inwieweit der politische Islam hier Fuss fassen kann, bleibt abzuwarten. Allem Anschein nach sind die Ausrichtung auf den Westen sowie der Wunsch nach materiellem Wohlstand und wirtschaftlicher Entwicklung derzeit deutlich ausgeprägter als der Drang, »Ungläubige« von der Erde zu tilgen. Auch das spezifische Erbe des Genozids könnte sich als Hürde für die Einflussnahme islamistischer Akteure erweisen.

In der beliebten Milchbar »Chez Dada« in Nyamirambo legt Jamel seine Ansicht zum Nahost-Konflikt bei einem Glas Buttermilch dar: »Ich verurteile zwar schon, wie die Israelis gegen die Zivilbevölkerung vorgehen. Aber immerhin verteidigen sie sich auch, denn viele Palästinenser wollen alle Juden töten. Ich will nie in einer Armee kämpfen, aber wenn ich müsste, dann in der israelischen. Ich kann nämlich sehr gut nachvollziehen, was den Juden widerfahren ist.«