Eine Geschichte kratzen

Line Hoven hat die hervorragende ­Graphic Novel »Liebe schaut weg« ­vorgelegt. von sonja eismann

Line Hoven benutzt eine außerge­wöhnliche Technik: Sie zeichnet ihre Comic-Geschichten nicht, sie schabt sie. In mit weißer Kreide und schwar­zer Tusche bedeckte Bögen kratzt sie in mühevoller Klein­arbeit ihre klaren Figuren, Kulissen und Interieurs, die wie holzschnittartige Monolithen aus dem melancholischen Schwarz des Hintergrunds aufragen. Die Absolventin der Hamburger Akademie der Wissenschaften arbeitete über mehrere Jahre hinweg an ihrer ersten Buchveröffentlichung »Liebe schaut weg«, die gleichzeitig ihre Diplomarbeit war. Auch wenn man nicht weiß, dass Hoven an scheinbar nichtigen Hintergrund­details mitunter mehrere Stunden oder Tage »kratzt«, ist man fasziniert von der Detailliertheit und gleichzeitigen Schlichtheit der großflächigen Panels.

In »Liebe schaut weg« erzählt Line Hoven die Geschichte ihrer eigenen Familie. Anhand alter Fotos, Rechnungen, Tickets oder Kinokarten entwirft die Autorin ihre eigene Vorstellung. Um die faktisch genaue Aufarbeitung der Vergangenheit geht es ihr nicht. Die Fami­lien­ge­schichte der Hovens im nationalsozialistischen Bonn, wo der Großvater väterlicherseits als Hitlerjunge entsetzt-verzückt ­Mendelssohn Bartholdy im ausländischen Radio lauscht, und die Geschichte der Loreys im ländlichen Michigan, wo der Großvater mütterlicherseits von einem Eintritt in die US-Army zum Kampf gegen die »Germans« träumt, laufen aufeinander zu, bis sich Vater und Mutter beim Auslandssemester in Bonn treffen und verlieben. Die immer ruhigen Bilder deuten die monströsen politischen Ereignisse in winzigen Alltagsgesten und -mimiken an, ohne die mikro­politische Innensicht der Protagonisten und Protagonistinnen zu verlassen. Wenn Hovens amerikanische Großeltern verliebt über eine völlig verlassene, zerkratzte Eisfläche schlittern oder das Flugzeug, das die Schwiegereltern in spe zu den »evil Germans« bringt, von wuchtigen schwarzen Wolken eingehüllt ist, wundert man sich einmal wieder, warum sich gerade der deutschsprachige Raum immer noch so schwer damit tut, die künstlerisch-literarische Qualität von Graphic Novels anzuerkennen. An Comics wie »Liebe schaut weg« kann es nicht liegen.

Line Hoven: Liebe schaut weg. Reprodukt, Berlin 2007, 96 S., 12 Euro