Gute SPD, schlechte SPD

Die Auseinandersetzung zwischen Kurt Beck und Franz Müntefering zeigt, welch tiefer Einschnitt in die sozialdemokratische Politik die Agenda 2010 war. Die Korrekturen, die Beck vorschlägt, ändern daran nichts, sondern dienen nur der vor­über­gehenden Beruhigung der sozialdemokratischen Kientel. Von Felix Klopotek

Bad news are good news. Vielleicht haben die Medienberater der SPD ihren wichtigsten Vertretern dieses Sprüchlein nahegelegt: Inszeniert einen im Prinzip substanzlosen Riesenkrach, einen, der mit Geld, Arbeit und Sozialpolitik zu tun hat, und ihr erlangt eine Aufmerksamkeit, von der die Kanzlerin und die Linkspartei nur träumen können!

Es ist wahrscheinlich sogar noch einfacher: Kurt Beck hat es in den vergangenen Monaten nicht geschafft, sich gegen Angela Merkel oder Oskar Lafontaine zu profilieren. Schon wurde prophezeit, die Partei »Die Linke« werde die SPD vor sich her treiben und Beck die aussichtslose Kanzlerkandidatur in zwei Jahren politisch nicht überleben. Der einzige Ausweg für Beck war es also, die eigene Partei zu beeindrucken und sich gegenüber der Schröder-Riege abzusetzen. Diese sind zwar noch an der Macht – Müntefering! –, aber umso besser: Ringt Beck Müntefering nieder, hat er endlich gezeigt, wo der Hammer hängt.

Politisch-medial also ist der Streit in der SPD um die Fortsetzung der Agenda 2010 schnell zu erklären. Um Inhalte scheint es dabei nicht zu gehen. Weder will Beck die Agenda rückgängig machen – es geht ihm um einzelne Korrekturen –, noch sollen diese Korrekturen einem Koali­tions­angebot an »Die Linke« gleichkommen.

Der Streit stellt sich als großes Medienspektakel dar, aber die sozialen Kräfteverhältnisse schlagen auch hier durch. Die Auseinandersetzung hat einen harten Kern: Wieso lösen eigentlich ein paar harmlose Kurskorrekturen – es geht um die Verlängerung der Zahlung des Arbeitslosengeldes I für Ältere auf bis zu 24 Monate – so eine verbissene, notorisch anti-sozialdemokratische und anti-gewerkschaftliche Pressekampagne aus? Wieso trifft das Vorhaben Becks auf den erbitterten, man möchte sagen: thatcheristischen Widerstand Münteferings, der doch vor vier Jahren als knarziger Altsozi das soziale Gesicht der Agenda abgeben sollte?

Die Agenda 2010 markiert das Ende der alte Sozialdemokratie. Diese lebte von der Idee, der arbeitenden Klasse gewisse, gut dosierte Wohltaten zu verordnen. Das Zauberwort, mittlerweile eine üble Beschimpfung, hieß »Verteilungsgerechtigkeit«. Die da oben geben etwas ab, damit die da unten mehr Geld haben, um sich als eifrige Konsumenten und zufriedene Staatsbürger in die Gesellschaft einzubringen. Der sozialdemokratischen Politik, die übrigens schon lange vor Bad Godesberg nicht antikapitalistisch war, ging es stets um makrostrukturelle Eingriffe zur Herstellung eines gesellschaftlichen Gleichgewichtes.

Diese Zeiten sind vorbei. Nach der Agenda 2010 ist sozialdemokratische Politik vor allem autoritäre Armutsverwaltung, und das einzige Bonbon, das den stets prekären Lohnabhängigen angeboten wird, ist die »individuelle Chance«. Geld wird für Qualifizierung und Weiterbildung der Arbeitslosen ausgegeben, damit sie fitter werden, um die Zumutungen der Arbeitswelt durchstehen zu können.

Insofern betreibt die SPD wieder radikale Politik, als sie die Klassenkampffrage von oben stellt: Entweder ihr passt euch an – und zwar nicht mehr als Klasse, sondern als proletarisierte Einzelwesen –, oder 100 Millionen Chinesen machen morgen euren Job. Aber diese Politik ist unflexibel: Wird die Kampfansage auch nur in einem Element gestört, und sei es, dass jemand aus den eigenen Reihen für eine bestimmte Kategorie von Arbeitslosen Ausnahmen in der Bezugsdauer des Arbeitslosengelds I machen will, ist sie in Frage gestellt.

Die Rücknahme einer Reform könnte einen Dominoeffekt auslösen, vor allem könnte sie bei den Betroffenen den Eindruck erwecken, dass die berüchtigten Sachzwänge, als die sich die Hartz-Gesetze dargestellt haben, doch nicht so unausweichlich sind. Die Agenda-Politik ist in ihrer Absage an sozialdemokratische Handlungsmuster so grundsätzlich, dass eine kleine Korrektur den Konflikt über den weiteren Weg in der Sozialpolitik in die Nähe der Systemfrage rückt.

Müntefering bekommt Albträume: Gerade erst hat er die alte SPD ideologisch und organisatorisch (Mitgliederschwund!) erledigt, schon droht die neue SPD durch sich selbst, durch ihren Vorsitzenden und seine Basis, liquidiert zu werden. Was dann an der Wahlurne das Ende einläuten würde: 20-Prozent-Marke, wir kommen! Denn die Tragik Becks besteht darin, dass er keinen Befreiungsschlag landen kann. Das Feld der repräsentativen Weltpolitik besetzt Merkel; das des »So nicht!« und des »Das geht anders!« Lafontaine. Beck bleibt nur das Gewurstel in der eigenen Partei, die er zwar auf seine Person vereidigt und dadurch noch mal einigt, die er mittelfristig aber kopflos dastehen lässt.

Er sieht aber, dass es nach sieben Jahren rot-grüner Regierung und vier Jahren Agenda 2010 etwas gibt, was es in 16 Jahren unter Kohl nicht gegeben hat, nämlich Anzeichen von erbittert geführten Klassenauseinandersetzungen, wütende Gewerkschaftsfunktionäre in den unteren und mittleren Ebenen, Streiks als Selbstverständlichkeit des öffentlichen Lebens. Der Aufschwung ist da, aber die Stimmung unter den Lohnabhängigen bleibt mies, denn der Abstieg lauert unter der nächsten Konjunkturdelle.

Die Rede ist hier nicht davon, dass Deutschland sich zu einem Klassenkampf-Paradies entwickelt (das ist eher unwahrscheinlich), die Rede ist von den Befürchtungen Becks, dass die Kontrolle über die Unterschichten immer mehr verloren geht. Also, Druck ablassen und die Leute in der Arbeitslosigkeit nicht noch mehr triezen. Was de facto ein Versprechen auch an die ist, die noch Arbeit haben: So schlimm wird der Absturz schon nicht werden.

Die Dauer der Bezüge für ältere Arbeitslose zu verlängern – Müntefering ist sich sicher, was das bedeutet: den Einstieg in die Frühverrentung, die Sabotage der mühsam aufgebauten Ideologie, jeder potenzielle Lohnabhängige sei wertvoll, und der Annahme, gerade von den Erfahrungen der Älteren könnten die Unternehmen doch profitieren! Die verlängerte Bezugsdauer ist das falsche Signal an die Leute, die noch Arbeit haben: Wirst du arbeitslos, kommst du da nicht mehr raus.

Beck und Müntefering rechnen sich gegenseitig ihre Sachzwänge vor – stark verklausuliert durch die medial-spektakuläre Form des Machtkampfes. Aber wer genauer hinsieht, entdeckt, wie wenig Spielraum verbleibt, wenn man die Sachzwänge umgehen will. Wie man’s auch nimmt: Die Sozialdemokraten stehen mit dem Rücken zur Wand.