Zwischen vielen Fronten

Ein Einmarsch türkischer Truppen im Nord­irak wird nach der Eskalation an der türkisch-irakischen Grenze vom Wochenende immer wahrscheinlicher. Doch die Drohung mit dem Militäreinsatz ist für die Re­gierung in Ankara militärisch wie politisch riskant. Denn die letzte Parlamentswahl hat auch gezeigt, dass die Regierungspartei auf kurdische Wähler angewiesen ist. von jan keetman, istanbul

Die Erlaubnis des türkischen Parlamens für einen Militäreinsatz gegen die PKK im kurdischen Nord­irak hänge über dem Irak, über seiner Einheit und Souveränität »wie ein Damoklesschwert«, kom­mentierte der irakische Außenminister Hosch­yar Zebari, nachdem eine überwältigende Mehrheit türkischer Abgeordneter einen Militäreinsatz im Nordirak genehmigt hatte. Falls die türkische Armee in die dicht bevölkerten Regionen vordrin­gen sollte, sagte Zebari, werde es auch Widerstand von Seiten der kurdischen Peschmerga geben.

Nach der Eskalation des Konflikts in der südtürki­schen Hakkari-Region an der irakischen Gren­ze am Sonntag wird ein türkischer Militäreinsatz ge­gen kurdische Separatisten im Nordirak immer wahrscheinlicher. PKK-Kämpfer hatten in der Nacht zum Sonntag eine Einheit der türkischen Armee angegriffen, daraufhin begann eine Offen­sive der türkischen Streitkräfte. 32 PKK-Kämpfer sowie 17 türkische Soldaten wurden türkischen Angaben zufolge dabei getötet.

Nach den Angriffen forderte das irakische Parla­ment die PKK auf, den Irak schleunigst zu verlassen. Notfalls müsse die irakische Regierung die Aktivitäten der PKK im Nordirak stoppen, sagte Parlamentspräsident Mahmud al-Maschhadani. Die kurdische Regionalregierung von Mesud Bar­zani im Nordirak macht nach außen hingegen nicht den Eindruck, wegen der türkischen Drohung besonders besorgt zu sein. Von einer mög­lichen gewaltsamen Vertreibung der PKK-Kämpfer will die Regionalregierung bislang nichts wissen, ebensowenig von einer Auslieferung kurdischer PKK-Anführer an die Türkei. Regierungssprecher Cemal Abdullah erklärte, solange sich die Türkei weigere, mit den Kurden an einem Tisch zu sitzen, brauche sie auch nicht mit der Hilfe der Kurden zu rechnen. Außerdem hänge das Entstehen der PKK mit einem »inneren politischen Problem der Türkei« zusammen.

Ob man in Erbil, dem Sitz der kurdischen Re­gio­nalregierung im Irak, von der türkischen Drohung wirklich so wenig beeindruckt ist, während in Bag­dad und Washington helle Aufregung herrscht, kann man bezweifeln. Schließlich fordern Sprecher der beiden großen türkischen Oppositionsparteien – der kemalistisch-sozial­demo­kratischen CHP und der ultranationalistischen MHP –, nicht nur gegen die PKK, sondern auch gegen den kurdi­schen Staat im Nordirak vorzugehen, den sie beschuldigen, die separatistischen Kämpfer zu beschützen. Die Vorschläge reichen von einer Wirtschaftsblockade bis zu militärischen Maßnahmen. Aber selbst wenn die Türkei dies nicht will, könnten die nordirakischen Kurden leicht zwischen die Fronten geraten. Hinzu kommt, dass die Einheiten der Peschmerga offiziell Teil der irakischen Armee sind und die ein­zige zuverlässige Hilfe für die US-Truppen im Irak darstellen.

Bereits vor der Entscheidung des türkischen Parla­ments waren 34 türkische Soldaten Anschlägen der PKK zum Opfer gefallen, was den Druck von Opposition und Öffentlichkeit auf die Regierung erhöht hatte. Militärisch sowie politisch ist der Einsatz im Nordirak für Erdogan und seine Partei ein riskanter Schritt.

Auch nach den Ereignissen vom Wochenende bleibt die militärische Lösung umstritten. In den neunziger Jahren hatte die Türkei mehrfach interveniert, nicht weniger als 24 Mal, sagte Cemal Abdullah. Damals hatte die türkische Armee sogar teilweise die Unterstützung der irakischen Kurden. Nicht von der Hand zu weisen ist auch die Gefahr, dass eine Militäraktion die PKK aufwertet.

Politisch verliert die PKK derzeit immer mehr an Boden. Obwohl es bei den Wahlen im Juli erstmals seit 15 Jahren wieder eine Chance gab, kur­dische Abgeordnete ins Parlament zu wählen, hat in den kurdischen Departements Erdogans Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt (AKP) gewonnen. Mittlerweile hat die AKP dort einen erheblich höheren Wähleranteil als in allen anderen Landesteilen.

Das gilt es im Auge zu behalten, wenn man sich das große Projekt ansieht, das sich Erdogan für die nächste Zukunft vorgenommen hat: eine ganz neue Verfassung. In Wirklichkeit ist der Bruch mit der alten, nach dem Putsch von 1980 vom Mi­litär in Auftrag gegebenen Konstitution gar nicht so groß. Die Regierung bekommt mehr Kompetenzen, aber der autoritäre Charakter der alten Verfassung wird nicht angetastet.

Selbst wenn es sich um bescheidene Reformen handelt, wecken sie doch die Ängste der alten Eliten, die fürchten, die Kontrolle über die Gesellschaft zu verlieren. Generalstabschef Yasar Bü­yü­kanit hat immer wieder zum Ausdruck gebracht, wie sehr er sich vor Minderheitenrechten fürchtet. Er hat Angst, Atatürks Staat könnte durch eine Art »samtener Revolution« so umgekrempelt werden wie der einst so mächtige Ostblock.

Mit der Eskalation des Konflikts am Wochenende bekam die Regierung andere Sorgen. Terror und Landesverteidigung stehen nun im Vordergrund.

Erdogan hat die Wahl zwischen einer politisch riskanten Militäraktion im Irak und der Alterna­tive, spätestens nach einem Jahr, wenn das Mandat für den Einmarsch ausläuft, als Feigling dazustehen, der die Verantwortung dafür trägt, das weiter türkische Soldaten sterben.

Kompliziert wird das Bild durch die geplante US-Resolution, welche die Massaker und Vertreibungen an Armeniern zwischen 1915 und 1917 als Völkermord bezeichnet. Sie gibt Erdogan die Gelegenheit, sich vorübergehend an die Spitze der nationalen Empörung zu stellen, was innenpolitisch einfach ist, denn die Armenier haben keine nennenswerte Lobby in der Türkei. Der Volks­zorn kann für Erdogan jedoch auch gefährlich sein, weil er schwer zu kontrollieren ist. Schon nutzt die Opposition die Stunde, um noch radikalere Forderungen, wie einen Krieg gegen den Kurdenführer Barzani, auf die Tagesordnung zu setzen.

Für Erdogan bleibt die Hoffnung, dass die USA oder die irakischen Kurden selbst etwas gegen die PKK unternehmen, was der türkische Premier zuhause als Erfolg vorweisen könnte. Am Ende ist das das Ziel der türkischen Politik, während die PKK davon träumen mag, die Türkei in den irakischen Sumpf zu ziehen.