Schwarzmarkt der Zeichen

Rauschhafte Feste zur »Dia de los Muertos« in Mexiko, bestialische Tötungsrituale der kolumbianischen Drogenkartelle, die Grausamkeit lateinamerikanischer Diktatoren und die komplexen Verwerfungen der spanischen Kolonialgeschichte: Die Wiener Ausstellung »¡Viva la Muerte!« fragt nach dem besonderen Verhältnis der Gesellschaft in Lateinamerika zum Tod. Von Jens Kastner

Die westliche Moderne hat den Tod verbannt. Aus dem prallen Leben ins sterile Krankenhaus zum Beispiel. Den modernen Bemühungen, die Sterblichkeit zu bewältigen, seien, so der Soziologe Zygmunt Bauman, postmoderne Anstrengungen gefolgt, die Unsterblichkeit zu de­kon­stru­ieren. In beiden Fällen ist der Umgang mit dem Tod für den Sozialwissenschaftler vor allem eins: eine Lebensstrategie. Das ist in vielen lateinamerikanischen Gesellschaften offenbar common sense. Hier gehören der Tod und der Umgang mit ihm oftmals zum Alltag. Das meint man als Europäer an so skurrilen Erschei­nungen wie den bunten Totenköpfen, »Calave­ras« genannt, festmachen zu können, die in Mexiko an Allerheiligen (Dia de los Muertos) die Straßen und Süßigkeitenläden schmücken. Seit 2003 ist die Dia de los Muertos sogar in die Unesco-Liste der »Meisterwerke des münd­lichen und immateriellen Erbes der Menschheit« aufgenommen.

Die Ausstellung »¡Viva la Muerte!« ist aber kein Skurrilitätenkabinett. Zur rituellen und kultischen Integration des Todes in den Alltag nimmt sie glücklicherweise immer schon eine vermittelte Position ein. Rituale und Kulte werden nicht dem voyeuristischen Blick präsentiert und auch nicht, wie beim Schriftsteller Octavio Paz, als mentale Wesenselemente »der Latein­amerikaner«. Stattdessen treten sie erst allmäh­lich aus einzelnen, durchweg zeitgenössischen künstlerischen Arbeiten hervor. So z. B. in der Fotoserie von Bastienne Schmidt, die Situationen von Trauer in verschiedenen Ländern groß­formatig in Schwarzweiß zeigt. Oder in den Kitschfiguren, die Pedro Reyes in Anlehnung an den Kult um die »Santa Muerte« geschaffen hat, eine Heiligenfigur, die erst in den achtziger Jahren vor allem unter mexikanischen Gefängnisinsassen zu großer Beliebtheit aufstieg.

Die psychologische oder popkulturelle Ver­ar­beitung des Sterbens ist aber bloß für einen Teil der Werke relevant. Andere beschäftigen sich eher mit gesellschaftlichen Verhältnissen, die Gewalt und Mord zur Folge haben. So verweist der Totenschädel mit der knochigen Clowns­­nase, die der brasilianische Künstler Vik Muniz geschaffen hat, auf den Kontext der Militärdiktaturen der siebziger Jahre. Damals musste kritische Kunst sich einer verdeckten Formensprache bedienen. Muniz nennt diesen Handel mit subversiven Zeichen sehr schön einen »semiotischen Schwarzmarkt«.

Auf diesem Markt haben sich einige Künstlerinnen und Künstler mit Bedeutungsproduktionsmitteln eingedeckt. Am überzeugendsten bringen dieses Repertoire diejenigen Künstlerin­nen und Künstler zum Ausdruck, die analytisch oder poetisch arbeiten. Zur ersten Gruppe gehört der Konzeptkünstler Francis Alÿs. In einem Video läuft er so lange mit einer geladenen Pistole durch Mexiko-Stadt, bis er von der Polizei gestoppt wird. Damit knüpft er kunsthistorisch nicht nur an die Stadtrundgänge an, mit denen die Situationisten im Frankreich der fünfziger und sechziger Jahre die Stadt wie auch ihre ­eigenen Erfahrungen neu vermessen wollten. Alÿs’ Messergebnis ist auch noch ein anderes: Dass es nur zwölf Minuten dauert, bis ein Po­lizist ihn aufhält, erstaunt. Ein Anzeichen für Ruhe und Ordnung ist das allerdings kaum, schließlich zählt Mexiko-Stadt zu den gewalttätigsten Orten der Welt. Alÿs verweist mit der trivial erscheinenden Aktion auf die nicht ganz so banale Tatsache, dass Gewalt sich offenbar anders äußert als im offenen Herumtragen von Schusswaffen.

Dass Gewaltverhältnisse gelegentlich erst sichtbar gemacht werden müssen, darauf zielt auch Regina José Galindo. Die guatemaltekische Body-Art-Künstlerin gehört zur poetischen Frak­tion. Hier sieht man sie vor dem Gebäude des Obersten Gerichtshofes in Guatemala-Stadt, immer wieder in eine kleine Wanne steigend, die sie vor sich her trägt. Darin ist Blut, auf dem Weg zum Gericht hinterlässt sie eine Blutspur von Fußabdrücken. Nach 36 Jahren Bürgerkrieg kommt man in dem mittel­ame­ri­ka­ni­schen Land schnell darauf, was das bedeuten soll. Die Gräuel des Bürgerkriegs, unter dem vor allem die maya-stämmige Bevölkerung zu leiden hatte, sind bis heute kaum aufgeklärt. Juristisch geahndet wurden die systematischen Menschenrechtsverletzungen des Militärs kaum. Eindimensional ist José Galindos Aktion deshalb aber nicht. Sie steht wiederum in der Tradition von Performances, in der vor allem feministische Künstlerinnen seit den sechziger Jahren den eigenen Körper als Medium nutzten, um systematisches Unrecht zu thematisieren.

Die Aktionen von Alÿs oder José Galindo sind nur zwei von insgesamt 18 künstlerischen Arbeiten, die die Ausstellung zeigt. Zu den in­teressantesten gehören sie deshalb, weil sie über ihren formalen Kontext hinaus auch ge­sell­schafts­­politische Fragen thematisieren. Darin wird deutlich: Als Lebensstrategie sagt der Tod auch etwas über die »soziale und kulturelle Organisation« (Bauman) einer Gesellschaft aus.

Diesen gesellschaftlichen Organisationsformen und Strukturen nachzuspüren, gelingt in der ansonsten sehenswerten Schau keinesfalls durchgängig. Das liegt einerseits an der Vielfalt des Themas: Vom Unfall bis zum Massenmord, in Feuerland oder Tijuana in den vergangenen 500 Jahren – alles gehört dazu. Die gelegentliche Unschärfe in Hinblick auf das Soziale liegt aber auch an den künstlerischen Mitteln und ihrer Vermittlung.

So erinnert beispielsweise der brachiale Rea­­lismus einer Künstlerin wie Teresa Margolles leicht an Octavio Paz’schen Schwulst – oder wirkt banal. Margolles lässt Seifenblasen durch den Aus­stellungsraum wirbeln, die aus Wasser sind, mit dem in der Gerichtsmedizin Leichen gewaschen wurden. Über gesellschaftliche Verhältnisse sagt das weit weniger aus als über die Gothic-Vergan­genheit der Künstlerin. Diese soziale Enthaltsamkeit wird im Katalog noch bestätigt. Dass Margolles auch in der Nähe von Ciudad Juárez im Norden Mexikos Filmaufnahmen machte, wo seit Jahren junge Frauen bes­tia­lisch ermordet werden, veranlasst den Kurator Thomas Mießgang zu der lapidaren Erklärung: »Man ordnete das Verbrechen einem Serienmörder zu, den die Polizei nie festsetzen konnte.«

Da ist selbst das Europäische Parlament bereits weiter. Auf Druck verschiedener Menschen­rechtsgruppen und NGO verabschiedete es am 10. Oktober eine Resolution, die die Morde an Frauen in Nordmexiko und Mittelamerika als »Femizid« bezeichnet. Es benennt die Morde also als strukturelles Problem und schlägt Maßnahmen vor, wie es behoben werden kann. Eine solche Politikberatung sollte man von der Kunst und ihren Vermittlungsinstanzen nicht verlangen, eine treffende Analyse aber sehr wohl. Und zwar erst recht dann, wenn die Ausstellungsmacher selbst mit diesem Anspruch antreten.

Am Maßstab, »eine spezifische Form der Grau­samkeit« (Kunsthalle-Chef Gerald Matt) in Rech­nung zu stellen, scheitert auch der ­Titel der Aus­stellung. Denn an keiner Stelle erfährt man, dass der Slogan »¡Viva la Muerte!« ein spezifisch faschistischer Schlachtruf ist. Mit ihm auf den Lippen metzelten die Anhänger General Francos im Spanischen Bürgerkrieg Zehntausende ihrer republikanischen und anarchistischen Gegnerinnen und Gegner nieder.

¡Viva la Muerte! Kunst und Tod in Lateinamerika. Kunsthalle Wien, 17. Oktober 2007 bis 17. Februar 2008. Zur Ausstellung erscheint ein Katalog im Verlag für moderne Kunst Nürnberg.