Alle Menschen werden Vertriebene

Das »Dokumentationszentrum zur Vertreibung« soll in der Mitte Berlins errichtet werden, in der Nähe des Geländes, auf dem die Nazis die Vernichtung der euro­päischen Juden planten. Von Jan Langehein

Ein Besucher Berlins, der vom Potsdamer Platz aus die Stresemannstraße Richtung Landwehrkanal hinunterläuft, stößt bereits nach wenigen Metern auf eine der größten Brachflächen, die im Stadtzentrum noch vom Krieg zeugen. Hinter einem baumbepflanzten Parkplatz sieht der Spaziergänger einsam die Backsteinfassade des Gropiusbaus aufragen; rundherum liegen ein­ge­zäun­te Schuttberge und zwei Gebäude, Typ Klassische Moderne, direkt an der Stresemannstraße.

Dass das Gelände immer noch brachliegt, hat einen Grund: Hier, direkt neben dem Gropiusbau, wurde der Zivilisationsbruch geplant, befohlen und koordiniert. Hier kommandierte Himmler die SS, und von hier aus dirigierten Hey­drich und Kaltenbrunner das Reichssicherheitshauptamt. Dessen Referatsleiter Adolf Eichmann or­ganisierte die Vernichtung der europäischen Juden, und so stand auch der Schreibtisch des Prototyps aller Schreibtischtäter hier, zwischen der heutigen Stresemann- und der Wilhelmstraße.

Viel erinnert daran bis heute nicht. Seit 20 Jahren gibt es hier die provisorische Ausstellung »Topographie des Terrors«; erst in der vorigen Woche wurde der Grundstein für ein Dokumentationszentrum gelegt. Fast gleichzeitig mit der Grundsteinlegung fiel die Entscheidung für ein weiteres Dokumentationszentrum auf dem angrenzendem Gelände: das für die Vertreibung der Deutschen aus den ehemaligen Ostgebieten.

Es ist geplant, das »Dokumentationszentrum zur Vertreibung« im Deutschlandhaus unterzubringen, einem der beiden Gebäude an der Strese­mann­straße, gegenüber dem Portikus des alten Anhalter Bahnhofs und keinen Steinwurf von der ehemaligen Zentrale der deutschen Vernichtungsbürokratie entfernt. Gefördert vom Bund sollen 18 000 Quadratmeter Ausstellungsfläche erstellt werden, bereits für das kommende Jahr sind 1,2 Millionen Euro Pla­nungs­kos­ten im Haus­halt vorgesehen. Diese Pläne haben der stellvertretende Präsident des Bundestags, Wolfgang Thier­se (SPD), und der Kulturstaatsminister Bernd Neumann (CDU) Ende Oktober, pünktlich zum 50. Geburtstag des Bundes der Vertriebenen, bekanntgegeben. Sie kommen damit einem Verspre­chen aus dem Koalitionsvertrag von 2005 nach, demzufolge der Bund in der laufenden Legislatur­periode ein »sichtbares Zeichen« gegen die Vertreibung setzen werde.

Dieses Zeichen vom Papier in die Berliner Gedenkstättenwirklichkeit zu transformieren, ist allerdings eine verzwickte Angelegenheit. Das geplante Dokumentationszentrum soll den Bund der Vertriebenen (BdV) beruhigen, der unter seiner Vorsitzenden Erika Steinbach seinerseits die Errichtung eines »Zentrums gegen Vertreibungen« vorantreibt und damit schon seit Jahren für empörte Reaktionen aus den östlichen Nachbarländern, vor allem aus Polen, sorgt. Von diesen Plänen will der Bund den BdV abhalten und gleichzei­tig verhindern, dass er allzu großen Einfluss auf das Projekt der Regierung gewinnt, um diplomatische Krisen und Revanchismusvorwürfe zu vermeiden.

Wie genau das geplante Zentrum einmal aussehen soll, ist noch nicht bekannt. Dafür weiß man immerhin, wie die Regierung politische Fettnäpfchen bei seiner Einrichtung umgehen will. Die Lösung liegt in einer »unselbständigen Stiftung« als Trägerin, die unter der Kuratel des Deutschen Historischen Museums steht. Diese Konstella­tion soll sicherstellen, dass sowohl das »Leid der Vertriebenen« gewürdigt als auch revisionistische Geschichtsklitterung verhindert wird.

Es überrascht nicht, dass sich die Verantwort­lichen bei dem Versuch, es allen Seiten recht zu machen, zu verheddern drohen. Staatsminister Neumann sagte, es gehe nicht darum, die Verant­wortung für die Vertreibung »in eine falsche Richtung zu bringen«; die Verantwortung trage das nationalsozialistische Deutschland. Gleichzeitig beschrieb Wolfgang Thierse das geplante Zentrum als einen Ort »der Erinnerung an Schick­sale von Deutschen, von Polen, von Tschechen, von Russen, von Armeniern – von den vielen verschiedenen Vertriebenen des 20. Jahrhunderts«.

Zusammengenommen führen diese Ansätze zu einem paradoxen Ergebnis: Der Versuch, eine Relativierung der NS-Verbrechen zu vermeiden, indem auch die Vertreibung anderer mit einbezogen wird, endet in der Gleichsetzung der Vertrei­bung in Folge des deutschen Vernichtungskriegs mit der Vertreibung durch die Vernichtungskrieger – und damit eben doch wieder in einer Rela­tivierung.

Trotz aller Bemühungen könnte das Dokumen­tationszentrum also für Streit mit den Nachbarn sorgen, spätestens dann, wenn die Ausstellungskonzepte veröffentlicht und diskutiert werden. Ge­genwärtig sorgt bereits die Frage für Aufregung, welche Rolle der BdV in dem Projekt eigentlich spielen soll. So begrüßte der Historiker Wolfgang Benz in der taz zwar grundsätzlich das Konzept, schränkte seinen Optimismus jedoch ein: »Es muss sichergestellt werden, dass die Einrichtung nicht unter den Einfluss des Bundes der Vertriebenen gerät.«

Entsprechende Befürchtungen wollte Wolfgang Thierse wohl aus dem Weg räumen, indem er feststellte: »An dem Projekt, das die Bundesregierung verwirklicht, ist der Bund der Vertriebenen nicht beteiligt.« Die Präsidentin des BdV, Erika Stein­bach, sagte dagegen im Deutschlandfunk, »dass in dieses sichtbare Zeichen zur Dokumentation der Vertreibung der Bund der Vertriebenen und auch das Zentrum gegen Vertreibung selbstverständlich eingebunden sind«. Im Klartext heißt das: Der BdV will beim Dokumen­tationszentrum der Bundesregierung ein entschei­dendes Wörtchen mitzureden haben. Von seinem eigenen »Zentrum gegen Vertreibung« lässt sich der BdV dagegen noch lange nicht abbringen.

Die Pläne der Regierung lösen also weder die Widersprüche auf, die stets mit der deutschen Wahrnehmung der Vertreibung verbunden sind, noch beenden sie die revisionistischen Versuche des BdV, seine Klientel neben Juden, Sinti und Roma, politisch Verfolgten und anderen Bevölkerungsgruppen endlich als (gleichberechtigte) Opfer des Zweiten Weltkriegs anerkannt zu sehen.

Trotzdem haben die Kommentatoren in den Medien die Pläne überwiegend begrüßt. Constan­ze von Bullion nannte das Deutschlandhaus in der Süddeutschen Zeitung einen »würdigen Gedenkort«, und weder ihr noch einem der anderen Kommentatoren ist offenbar etwas seltsam vorgekommen an der Symbolik, die Geschichte der Vertreibung zur gleichen Zeit und im gleichen Straßenblock zu dokumentieren wie die Geschich­te der Vernichtung.

Ob gewolltes Konzept oder Zufall – die Dop­pelung der Dokumentationszentren beschreibt die unterschwellige Botschaft deutscher Erinnerungspolitik: Die Deutschen von damals mögen die Täter gewesen sein, Opfer waren sie aber genauso, was wiederum die anderen auch zu Tätern macht. Dass sich die Deutschen von heute aber besonders emsig zur Täterschaft ihrer Vorfahren bekennen, verschafft ihnenÜberlegenheit.

Ein Grundstück ist auf dem Gelände übrigens nach wie vor frei. Vielleicht kommt ja noch jemand auf die Idee, dort das »Mahnmal für die Opfer des Bombenkriegs« zu errichten.