Das Denken der Anderen

Rosa Luxemburg hat eine widersprüchliche Rezeptionsgeschichte. Die Autorin und sozialistische Feministin Frigga Haug hat der Debatte nun eine weitere Facette hinzugefügt. In ihrer Biografie über die linke Ikone plädiert sie für eine Politik der Frauen aus dem Geist der Betroffenen. PETER BIERL hat das Buch gelesen und stellt seine Interpretation dagegen

Wer früh stirbt, kann kein alter Spießer werden und eignet sich schon deshalb als Ikone. Das gilt für James Dean und Jimi Hendrix wie für Che Gue­vara und Rosa Luxemburg. Beide sind Ikonen der Linken, ihre Posi­tionen werden selten ernst genommen. In der alten KPD und der SED wurde Luxemburg als Märtyrerin glorifiziert, es galt die Maxime, wo immer Luxemburg Lenin widersprochen hatte, habe sie geirrt. Die KPD-Führerin Ruth Fischer schmäh­te den »Luxemburgismus« gar als »Syphilisbazillus«. Die PDS/Linkspartei heute veranstaltet jedes Jahr eine Latschdemonstration für »Karl und Rosa«, dabei kann man sich ausmalen, was Luxemburg zu einer Partei sagen würde, die in Berlin als Koalitionspartner einen brutalen Sozialabbau mitträgt. Oder zu einer Stiftung, die ihren Namen trägt, aber Ökofaschisten wie Rudolf Bahro und Herbert Gruhl würdigt.

Zur Ikonografie gehört eine Reihe schlechter Bücher, der Frigga Haug ein weiteres hinzugefügt hat. Die besten Passagen sind jene, in denen sie (vermeintliche) Defizite von Luxemburgs Denken aufzählt, die erst Antonio Gramsci behoben haben soll, weil das zum Nachdenken animiert, oder solche, in denen Haug ihre Luxem­burg-Lektüre schildert. Luxemburgs Sprache habe sie immer wieder befremdet, ebenso ein reaktionäres Bild der Arbeiterin – ein Eindruck, den Haug korrigieren wollte: Luxemburg habe die Frauen weder idealisiert noch deren Elend zu Agitationszwecken beschworen, sondern ein Voranschreiten »als Losreißen vom Gegenwärtigen« beschrieben. Haug bezieht sich auf einen Text, in dem Luxemburg von Wanderarbeiterinnen schreibt, die, ein Liedchen trällernd, die Windeln waschen oder bescheiden und geduldig auf dem Bahnhof auf den Zug warten, »ein Tüchlein auf dem schlicht gescheitelten Kopf«. Sie verschweigt, dass Luxemburg in der Gebärstreik-Debatte von 1913 Verhütungsmittel für Arbeiterinnen ablehnte, weil es sonst an Soldaten für die Revolution mangeln könnte.

Maria Mies, Claudia von Werlhof und Veronika Bennholdt-Thomsen griffen Anfang der acht­ziger Jahre Luxemburgs These auf, das Kapital bedürfe zu seiner Reproduktion der stän­digen Ausbeutung und Zerstörung nicht-kapitalistischer Welten, schreibt Haug. Es fehlt der Hinweis, dass Mies und andere abdrifteten zu einer anti-linken, ökoreaktionären Subsistenz-Propaganda und heute mit allerlei Obskuranten pak­tieren. Haug ist von deren Grundannahme, Frauen seien die besseren Menschen, nicht weit entfernt: Würden Frauen Parlamente, Parteispitzen, Gewerkschaftsführungen und alle übrigen öffentlichen Bereiche besetzen, so behauptet sie, sei eine andere Politik möglich, mehr die Bedürfnisse der Menschen erfüllend, weniger technokratisch, herzlos, verschwenderisch, krie­gerisch. Dies aber nicht, so Haug, weil Frauen von Natur aus gefühliger seien, sondern aufgrund der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, die ihnen die Sorge um andere Menschen zuweise. Als Beweis, wie schön die Welt wäre, würden nur überall mehr Frauen beteiligt, führt Haug die deutsche Armee an: »Ganz ähnlich wie der Einzug von Frauen in die Bundeswehr, dieser mächtigen Instanz von ›Männern‹, die Reproduktion herrschender Männlichkeit in Fra­ge stellt.«

In der Bundeswehr dienten von Anfang an Frauen als zivile Kräfte, seit den siebziger Jahren wurden sie wegen des Personalmangels sukzessive in die Streitkräfte aufgenommen. Nachdem der Europäische Gerichtshof im Jahr 2000 entschied, dass Frauen auch in Kampfeinheiten dienen dürfen, stehen ihnen im Prinzip alle Positionen in der deutschen Armee offen. Dass sich die Bundeswehr durch Frauen gewandelt haben soll, ist ein Märchen, wie Berichte über Schikanierungen von Rekruten durch Vorgesetzte, Vergewaltigung und Misshandlung von Soldatinnen oder die Schändung von Gebeinen durch Soldaten in Afghanistan belegen. Das Militär bleibt ein Gewaltapparat, wer sich für eine Karriere dort entscheidet, passt sich an oder hat schon einen entsprechenden Umgang mit Gewalt. Erinnert sei an die US-Soldatin Lynndie England, die an der Folterung von Gefangenen im Irak beteiligt war.

Die Gleichstellung von Frauen ist ein Ziel, für das es sich im Prinzip zu kämpfen lohnt, aber es ändert nichts am Charakter der Institutionen. Für die Sozialisation von Angela Merkel oder Margaret Thatcher dürfte nicht das Geschlecht ausschlaggebend gewesen sein, sondern der Machtkampf in hierarchischen Parteistrukturen, den sie für sich entschieden. Insofern ist Haugs Verweis auf die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung nicht zutreffend. Frauen, die erfolgreich Karriere machen, entziehen sich dieser Arbeitsteilung, mindestens teilweise. Haug übersieht auch, dass die Funktion von Institutionen sich nicht schon allein dadurch ändert, dass sie von anderen Menschen übernommen werden.

Die These von der zivilisierenden Funktion des Weiblichen im Kapitalismus korrespondiert mit dem Versuch, Luxemburgs Begriff einer »revolutionären Realpolitik« zu nutzen. Dieser sei »für die Neuerfindung linker Politik im 21. Jahr­hundert so aktuell und dringlich wie historisch verbarrikadiert«, schreibt Haug. Revolutionäre Realpolitik sei Aufklärung, Analyse und Kritik, Kampf um Hegemonie, vor allem aber darum, Reformpolitik und ein sozialistisches Endziel zu verknüpfen. Wie diese Verknüpfung zustande kommt, bleibt unklar.

Als Beispiel wählt Haug die Volkszählung der achtziger Jahre. Die Linke in der BRD habe sich damals »ganz auf Abwehr und abstrakte Negation versteift«, rügt sie, während Luxemburg einst eine staatliche Erhebung über wirtschaftliche Konflikte unterstützt habe, weil das daraus entstandene Gesamtbild der Klassenkämpfe das Selbstvertrauen der Genossen gestärkt haben soll. Wie die Gegner der Volkszählung die ge­sammelten Daten für den Klassenkampf hätten nutzen sollen, verrät Haug nicht. Dafür verwirft sie umso entschiedener die Kritik, der Staat habe die Privatsphäre ausspioniert. »Die Frauen­bewegung, die die Veröffentlichung des Privaten als politisch fast ein Jahrzehnt gefordert hatte, war an den Befürwortern des Boykotts spurlos vorbeigegangen«, schreibt sie stattdessen.

Das Problem von Haug wie Luxemburg ist die deterministische Tradition des Marxismus, der keine moderne Linke fundieren kann, weil er auf dem Fortschrittsoptimismus und der auto­ritären Wissenschaftsgläubigkeit des 19. Jahrhunderts fußt. Zwar zitiert Haug die witzigen Glossen Luxemburgs über deutsche Professoren, aber bloß, um den »wissenschaftlichen Sozialismus« leuchtend davon abzuheben, und sie gelangt schließlich zu der idealistischen The­se, Intellektuellen gehe es grundsätzlich darum, »Wahrheiten kritisch zu verbreiten, was sich erst bewährt, wenn sie kein partikulares Interesse vertreten«.

Das Konzept der revolutionären Realpolitik basiere auf der angeblichen Erkenntnis dieses wissenschaftlichen Sozialismus, Kapitalismus sei im Prinzip eine prima Sache, weil er den Sozialismus vorbereite und irgendwann an seinen eigenen Widersprüchen zugrunde gehen werde. Richtig daran ist, dass erst der Kapitalismus eine Produktivität erreicht, die eine kommunistische Gesellschaft vorstellbar macht, die etwas anderes wäre als eine Diktatur möglichst gerechter Mangelverwaltung. Von dieser Erkennt­nis abgesehen finden sich bei Luxemburg zuhauf Phrasen über eherne Gesetze und den Maulwurf der geschichtlichen Entwicklung oder das große historische Gesetz, das wie eine Naturkraft wirke. Sich im Einklang mit dem Weltgeist oder den Naturgesetzen zu wähnen, verschafft einem sicher ein gutes Gefühl, bloß sind solche Gewissheiten trügerisch. Einem Freund, der angesichts der Zustimmung der SPD zu den Kriegskrediten im Sommer 1914 aus der Partei austreten wollte, schrieb sie, er könne doch nicht aus der Menschheitsgeschichte austreten.

Wie zur Korrektur hat Luxemburg an anderen Stellen betont, dass bewusstes politisches Handeln ausschlaggebend sei. Damit setzte sie sich wohltuend vom Dogmatismus der II. In­ternationale und des Marxismus ab, mehr und mehr im Laufe ihres Lebens, weil Entwicklungen wie die Massenstreiks und die russischen Revolutionen neue Möglichkeiten politischen Handelns zu eröffnen schienen.

Ähnlich widersprüchlich ist Marx, der sich zwar vom mechanischen Materialismus abgrenzte, betonte, dass »die Umstände ebensosehr die Menschen wie die Menschen die Umstände machen« oder »die Menschen (…) ihre Geschichte selber machen, wenn auch unter vorgefundenen Umständen (…)«, andererseits in der Einleitung zum »Kapital« die gesellschaft­liche Entwicklung als Naturgesetz beschreibt, als Ergebnis von »ehernen Notwendigkeiten«. Engels verglich Marx in der Grabrede 1883 gar mit Darwin. Der eine habe die Gesetze der biologischen, der andere die der sozialen Evolution entdeckt. Eine solche Denkweise, im Marxismus-Leninismus komprimiert zur Stadientheorie Urgesellschaft-Feudalismus-Kapitalismus-Sozialismus-Kommunismus, führt zu Rechthaberei, Fatalismus und übertriebenem Optimismus. Dieses lineare Fortschrittskonzept ist falsch, weil die Geschichte auch lange Perioden des Rückschritts und Verfalls kennt, und hat sich im 20. Jahrhundert mit dem Zivilisationsbruch Auschwitz als säkulare Heilslehre erwiesen.

Irreführend ist auch die mit dem Fortschritts­optimismus verbundene Konstruktion einer Arbeiterklasse als privilegiertem revolutionärem Subjekt, die Marx hegelianisch aus dem Drei­sprung These-Antithese-Synthese abgeleitet hat. Reformpolitik ist notwendig, nicht um die Massen zu gewinnen, wie es bei Luxemburg/Haug paternalistisch heißt, sondern, weil, wer nicht von Seelenwanderung und Reinkarna­tion ausgeht, für ein besseres Leben im Hier und Jetzt kämpft. Bescheidene Erfolge der historischen Sozialdemokratie in dieser Hinsicht führ­ten aber dazu, dass mehr oder weniger große Teile der Arbeiterklasse in den kapitalistischen Zentren mehr zu verlieren hatten als ihre Ketten und sich darum an nationalen Raubzügen und Standortkonkurrenzen beteiligten, nach dem Motto »Wanns meim Herrn guatgeht, geht’s ma aa guat«, wie die österreichische Band Schmetterlinge einmal über die Gewerkschaften spottete. Die Berechnungen mancher Linker der sechziger und siebziger Jahre über die relative Verarmung des Proletariats im »Spätkapitalismus«, im Verhältnis zum gesamten gesellschaftlichen Reichtum, waren deshalb so richtig wie folgenlos.

Haug behauptet, wofür sich genug Zitate anführen lassen, dass Luxemburg einen Zusam­men­bruch des Kapitalismus nur als theoretische Ableitung sah, und glättet anderslautende Sätze, die die Politikerin insbesondere im Kontext der Revisionismus-Debatte von 1898 ff. formuliert hatte: »Schreiben wir die Wortwahl und die große Sicherheit über die Zukunft ihrer Jugend zu – und nehmen als haltbares Element die Frage der Widersprüche.« Haug selbst verbleibt jedoch in der Logik der Zusammenbruchs­theorien, wenn sie meint: »Grundannahme bleibt, dass die kapitalistische Produktionsweise selbst revolutionär und innovativ ist, bis sie an ihre Grenzen stößt.« Genau diese affirmative Haltung – denken wir an eine »revolutionäre« Atomkraft, gefährliche Chemikalien oder Gentechnik – ist es, die Luxemburg scharf kritisierte, etwa als sie die deutsche Kolonialpolitik rüg­te und das Argument manches Genossen, das sei eine zivilisatorische Mission, zerpflückte. Christel Neusüß hat diesen Aspekt zu Recht betont und Luxemburg nicht, wie Haug ihr unterstellt, in die Nähe von Natur, Tradition und Bewahrung gerückt.

Eine grandiose Fehlinterpretation leistet sich Haug, wenn sie eine »überraschend positive Wen­dung Luxemburgs zu Nation und Selbstbestimmungsrecht« unterstellt. Luxemburg war immer eine, wenn auch ökonomistisch argumentieren­de, entschiedene Anti-Nationalistin. Das ist eines ihrer bleibenden Verdienste, ebenso wie ihr Hinweis in der Junius-Broschüre, dass es der deutsche Imperialismus war, der im Sommer 1914 einen Präventivkrieg anfing – was sie wohl zur KPD gemeint hätte, die in der Weimarer Republik gegen den Versailler Vertrag hetzte und den Faschisten Schlageter als nationalen Märtyrer feierte?

Solche Verfälschung dient natürlich aktuellen Bedürfnissen. Die »Enteignung von Nation und Selbstbestimmung zu imperialistischen Zwecken kann rückgängig gemacht werden durch Wiederaneignung«, postuliert Haug. In Deutschland »schien« das Nationale wegen des Nationalso­zialismus »ganz selbstverständlich zu den Posten zu zählen, die auf den Kehrichthaufen der Geschichte gehörten«, klagt sie und erinnert an einen »vielstimmigen Protest von links«, als sich die PDS-Vorsitzende Gabi Zimmer mit dem Bekenntnis outete, sie »liebe Deutschland«. Haug bedauert eine »Verachtung der eigenen Nation (besonders in Deutschland)«. Da dürfte sie ihre Freude an den fahnenschwingenden Massen zur Fußball-WM 2006 gehabt haben.

Frigga Haug: Rosa Luxemburg und die Kunst der Politik. Argument-Verlag, Hamburg 2007, 234 Seiten, 16,50 Euro