Das war Verrat, Herr Kamerad!

Von der Wehrmachtsjustiz verurteilte »Kriegs­verräter« sind noch immer nicht rehabilitiert. Das könnte der Bundestag in dieser Woche ändern. von ron steinke

Jörg van Essen (FDP) ist ein wahrhaft bedauernswerter und gebeutelter Mann. »Ich finde es fast schon gespenstisch, dass wir uns heute mit diesem Antrag beschäftigen. Es hat den Eindruck, man hätte es hier mit Untoten zu tun. Wie oft wol­len wir uns denn noch mit den Schandurteilen aus der NS-Zeit beschäftigen?« fragte der Parlamen­tarische Geschäftsführer der FDP-Fraktion im Frühjahr in das Bundestagsplenum hinein.

Es gibt Hoffnung für ihn. Am Freitag dieser Woche soll, vielleicht zum letzten Mal, im Bundes­tag über die späte juristische Rehabilitierung der letzten Opfer nationalsozialistischer Strafgerichte debattiert werden. Nur noch wenige Urteile der NS-Justiz gelten bis heute fort, vor allem Urteile der Wehrmachtsjustiz. Die meisten Opfer erleben die gegenwärtige Debatte ohnehin nicht mehr.

Zwar ordneten die Alliierten bereits kurz nach Ende des Krieges an, alle Strafurteile, die aufgrund nationalsozialistischer Gesetze ergangen waren, zu annullieren. Der Bundestag stimmte aber erst im Jahr 1998 für eine pauschale Aufhebung der Urteile des Volksgerichtshofs und der Standgerichte. Die Urteile der Wehrmachtsjustiz wurden unterdessen vom damals verabschiedeten »Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege« bewusst ausgenommen. Noch im Jahr 2002, als über das Thema erneut diskutiert wurde, betonten die Fraktionen der Union und der FDP, dass die Urteile von NS-Militärgerichten etwa gegen Deserteure aus ihrer Sicht nicht pauschal als Unrecht betrachtet werden könnten. Eine Mehrheit aus SPD, Grünen und PDS rehabilitierte die Deserteure damals.

Allerdings machten auch sie bei den Militärgerichten eine Ausnahme: Wer von der Wehrmachts­justiz wegen des Tatbestands des »Kriegsverrats« verurteilt wurde, gilt bis heute als Straftäter. Mit einem Gesetzentwurf versucht die Linksfraktion nun, die Aufhebung dieser Urteilssprüche zu erreichen und die »Kriegsverräter« zu rehabilitieren.

Von den Betroffenen lebt nach Informationen des Vorsitzenden der Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz, Ludwig Baumann, niemand mehr. Auf »Kriegsverrat« stand ausnahmslos die Todesstrafe. Deshalb benutzte Jörg van Essen, Oberst der Bundeswehr in Reserve, in der ersten Lesung des Antrags im Bundestag den Ausdruck »Untote« für die Opfer, und Norbert Geis (CSU) gab sich ahnungslos, warum mehr als 60 Jahre nach Ende des NS-Regimes »noch immer« gefordert werde, »Urteile aus dieser Zeit pauschal aufzuheben«. Zugleich scheinen einige geschicht­liche Vorstellungen über die Wehrmacht durchaus noch quicklebendig zu sein.

»Wer Kriegsverrat beging, hat oft in einer verbrecherischen Weise den eigenen Kameraden geschadet, ja sie oft in Lebensgefahr gebracht«, begründete Norbert Geis (CSU) im Namen der Unions­fraktion, wieso der »Verrat« an der Wehrmacht auch nach heutigen Maßstäben als verwerflich anzusehen sei. CDU und CSU sprechen sich dafür aus, die entsprechenden Urteile bestehen zu lassen. Rehabilitierungen sollen allenfalls nach einer »Einzelfallprüfung« möglich sein. Auch der Redner der SPD-Fraktion, Carl-Christian Dressel, erklärte, die mögliche Berechtigung der Wehrmachts-Urteile wegen »Kriegsverrats« bestehe in der »nicht ausschließbaren Lebensgefährdung für eine Vielzahl von Soldaten«. Kurz: Die Verwerf­lichkeit einer Schädigung der Wehrmacht wird damit begründet, dass möglicherweise die Wehrmacht geschädigt wurde.

Wer das als legitime und höchst wünschenswerte Tat betrachtet, hat aus Sicht von Dressel und Geis falsche Vorstellungen vom deutschen Vernichtungsfeldzug in Europa. So erklärte Geis im Bundestag: »Hitler hatte zweifellos kein Recht zum Angriffskrieg. Er ist deshalb einer der größten Kriegsverbrecher aller Zeiten. Aber auch in einem ungerechten Krieg müssen Rechtsregeln gelten, kann nicht das Verbrechen des Verrats generell als gerechtfertigt abgesegnet werden.«

Das zugrunde liegende Bild einer »unpolitischen« Wehrmacht umriss Norbert Geis bereits im Jahr 2002, als er sich gegen die Rehabilitierung von verurteilten Deserteuren wandte. Er argumentierte im Namen der Unionsfraktion, man müsse bedenken, dass manche Soldaten auch des­halb desertiert seien, »um einer gerechten Strafe wegen einer schweren Straftat, unter Umständen gegen Zivilisten aus den besetzten Gebieten, zu entgehen«. Dazu sei hier an eine kleine, banale Tatsache erinnert: Spätestens der so genannte Bandenbekämpfungsbefehl Hitlers vom 16. Oktober 1942, der die Anweisung enthielt, »ohne Einschränkungen auch gegen Frauen und Kinder jedes Mittel anzuwenden, wenn es nur zum Erfolg« führe, sicherte den Soldaten für jegliche Gräueltaten ausdrücklich Straffreiheit zu. Wer Verbrechen an der Zivilbevölkerung beging, hatte keine »gerechte Strafe« zu erwarten, sondern oftmals eine Auszeichnung oder Beförderung.

Welche konkreten Handlungen die Justiz der Wehrmacht als »Kriegsverrat« bezeichnete, ist in­des im Gesetzeskommentar des NS-Juristen Erich Schwinge von 1944 nachzulesen, der übrigens nach dem Krieg als Hochschulrektor in Marburg weiter Karriere machte. Als »Kriegsverrat« galt »seit dem Krieg mit Russland (…) jegliche Unterstützung der Ziele des Bolschewismus«. Ausreichend war bereits jedes Anzeichen einer entsprechenden »Gesinnung«. Der Tatbestand war politisches Strafrecht in Reinform: »Kriegsverrat« umfasste unter anderem die Kontaktaufnahme zu sowjetischen Kriegsgefangenen, die Unterstützung des einheimischen Widerstands durch die Weitergabe von Informationen sowie jeder Versuch, Jüdinnen und Juden das Leben zu retten.

Beispiele für Urteile wegen »Kriegsverrats« haben die Militärhistoriker Wolfram Wette und Detlev Vogel in einem Buch mit dem Titel »Das letzte Tabu: NS-Militärjustiz und Kriegsverrat« zusammengetragen, das im Sommer erschienen ist. Es dokumentiert etwa den Fall des Stabsgefreiten Josef Salz, der wegen »Kriegsverrats« hingerichtet wurde, weil er in seinem Tagebuch »das deutsche Volk, seine Führung und die Wehrmacht in übelster Weise« geschmäht habe, wie es im Ur­teil heißt. Ein anderer wurde als »Kriegsverräter« hingerichtet, weil er im Mai 1944 versucht hatte, 13 ungarische Juden in seinem LKW nach Rumänien zu schmuggeln.

Die Bundesjustizministerin Brigitte Zypries (SPD) nahm die Dokumentation von Wette und Vogel kürzlich zum Anlass, von ihrer bisherigen Ablehnung einer Rehabilitierung abzurücken. Bei der Eröffnung der Wanderausstellung über die Wehrmachtsjustiz »Was damals Recht war … « im Juni erklärte sie, man müsse »neu darüber diskutieren, ob man nicht auch die Verurteilungen wegen Kriegsverrats pauschal aufheben sollte«. Jan Korte (»Die Linke«), der zu den Initiatoren des Antrags auf Rehabilitierung zählt, hat aber wenig Hoffnung, dass in der Abstimmung am Freitag viele Abgeordnete der SPD dafür stimmen werden – Koalition ist Koalition. Norbert Geis bestätigte der Jungle World kurz vor der Debatte, dass sich an der Meinung der Unionsfraktion nichts geändert hat.

Dabei geht es ausdrücklich auch um den Ruf der Wehrmachtsjustiz. »Es gab auch Richter, die nach bestem Wissen und Gewissen handelten, Richter, die sich nichts vorzuwerfen haben und für die wir uns auch heute nicht zu schämen brauchen«, meint Jürgen Gehb, der rechtspolitische Sprecher der Unionsfraktion. Wenn es um Wehrmachtsrichter geht, redet natürlich niemand im Bundestag von »Untoten«.