Falsche Baustelle

Der Nationalismus unter türkischen Jugendlichen in Deutschland ist virulent. Aber die meisten von ihnen wissen überhaupt nicht, was die Grauen Wölfe sind und wie es um die PKK bestellt ist. kommentar von aycan demirel

Den Grauen Wölfen wurde in den vergangenen Jahren keine besondere Relevanz hinsichtlich der politischen Orientierung von türkischen Jugendlichen in Deutschland beigemessen. Zu Recht. Für türkische Jugendliche hierzulande waren die vom politischen Islam propagierten Weltbilder und der mit der türkischen Fahne verbundene popkulturelle Aspekt viel wichtiger für ihr Selbstbewusstsein.

Auch wenn viele Jugendliche in den vergangenen Wochen in Deutschland das Zeichen der Grauen Wölfe gezeigt haben, wissen viele überhaupt nicht, wer die Grauen Wölfe sind und welche politischen Ansichten sie vertreten. Kreuzberger Jugendliche, die sich dem antikurdischen Mob vor zwei Wochen anschlossen, behaupten etwa, das Graue-Wölfe-Zeichen sei ein Anti-PKK-Zeichen. Die Fokussierung auf diese radikale Bewegung werde dem eigentlichen Problem nicht gerecht. Sicherlich sind die Grauen Wölfe die radikalste Gruppierung innerhalb des mehr oder weniger alle politischen Strömungen umfassenden türkischen Nationalismus. Sie sind als etablierte politische Partei MHP an der Regierung beteiligt, sie sind bei den polizeilichen Sondereinheiten stark präsent, und sie sind in staatlich geschützten paramilitärischen Todesschwadronen und Mafiastrukturen organisiert. Die nationalistische Mobilmachung der vergangenen Jahre und insbesondere die Wiederaufnahme des bewaffneten Kampfes durch die PKK hat der Partei großen Zulauf gebracht.

Doch in Deutschland spielen die Grauen Wölfe diese Rolle nicht. Sie erhalten hier immer nur dann großen Zulauf, wenn die nationalistische Stimmung bereits besonders aufgeheizt ist. Im Kontext des Konflikts mit der PKK Anfang der neunziger Jahre und auch angesichts der Pogrome in Deutschland erschienen deutsch-türkische Rap-Gruppen wie Cartel mit extrem nationalistischen Texten auf der Bühne. Kaum hatte sich die Situation wieder entspannt, gerieten Cartel und die Grauen Wölfe unter türkischen Jugendlichen schnell in Vergessenheit.

Genausowenig wie über die Grauen Wölfe wissen die türkischen Jugendlichen allerdings über die PKK, gegen die sie demonstrieren. Deren Stärke nimmt anscheinend nicht nur in den kurdischen Gebieten, sondern auch hierzulande ab. So jedenfalls könnte man die im Vergleich zu den neunziger Jahren nicht gerade hohe Teilnehmerzahl der kurdischen Demonstrationen in der vergangenen Woche in Deutschland interpretieren.

Bei den Parlamentswahlen in der Türkei hat die AKP in vielen kurdischen Städten mehr Stimmen bekommen als die unabhängigen Kandidaten der kurdischen Nationalisten. Für viele Wähler aus der traditionell islamisch-konservativen kurdischen Bevölkerung war die militärkritische Haltung und die islamische Orientierung der AKP ausschlaggebend. Der Aufstieg des Islamismus, ob light oder radikal, stellt für den kurdischen Nationalismus tatsächlich eine Bedrohung dar.

Die türkische Gesellschaft, einschließlich der Mehrheit der Kurden, ist der Auseinandersetzungen zwischen Militär und Islamisten müde. Nach der Durchsetzung Abdullah Güls als Staatspräsident herrscht eine Patt-Situation, in der sowohl die AKP als auch das Militär sich mit der Aufschiebung des Konflikts um Laizismus und Islamisierung zufrieden geben. Die Massen, die mit türkischen Fahnen gegen eine Islamisierung der Türkei und gegen die AKP protestiert haben, und die anderen Millionen, die mit türkischen Fahnen und AKP-Fahnen Tayyip Erdogan zu seinem spektakulären Wahlsieg verholfen haben, nähern sich einander nun an. Die kurz vorher gegeneinander stehenden Massen gehen jetzt zusammen auf die Straße. Die Krise und die nationalistische Antwort darauf schweißt die Nation zusammen.

Auch in Deutschland stehen die türkischen Na­tionalisten auf der Straße und das sicherlich noch viel stärker als in den neunziger Jahren, was vielleicht weniger am aggressiver gewordenen Nationalismus liegt als an leichteren Mobilisierungsmöglichkeiten über SMS und MSN.

Es bleibt die große Frage, wieso die in Berlin oder Dortmund geborenen Jugendlichen sich immer wieder vom türkischen Nationalismus angezogen fühlen und hinter osmanischen Kriegskapellen oder einer Partei wie der MHP hinterherlaufen, die einen EU-Beitritt der Türkei vehement ablehnt. Das ist doch gar nicht ihre Baustelle. solange sie aber durch die deutsche Mehrheitsgesellschaft sozialen Ausschluss erfahren, werden Angebote wie Moscheen, türkische Fahnen und Graue-Wölfe-Zeichen beliebter – unabhängig davon, was in der Türkei passiert.