Gespenster revisited

Zum Jahrestag der Oktoberrevolution ­rekonstruiert Bini Adamczak die ­Geschichte des Kommunismus und ­bürstet sie gegen den Strich: von 1939 bis 1917. Welche Ideen liegen unter dem Schutthaufen der Geschichte begraben? Von Jessica Zeller

Es bedarf schon einigen Mutes, sich im Jahr 2007 als selbst erklärte Kom­munistin mit den historischen Erfahrungen der Sowjetunion auseinanderzusetzen. 90 Jahre nach der Erstürmung des Winterpalastes und 18 Jahre nach dem Mauerfall erscheint eigentlich fast nichts in der Linken so anachronistisch wie die mühsame Bearbeitung der russischen Revolution und ihres Scheiterns. Mit »Kriegskommunismus«, alleiniger Herrschaft der Partei, Ausschluss der Opposi­tion und schließlich den Verbrechen des Stalinismus hat man sich in der Schulzeit etwas auseinandergesetzt. Aber mal ehrlich, wer fand »Animal Farm« wirklich spannend? Danach wird das Feld des realexistierenden Sozialismus denen überlassen, die sich bis heute noch trauen, sich positiv auf die Sowjetunion zu beziehen, oder Historikern, die nicht müde werden, mit der Gleichsetzung von Stalinismus und Nationalsozialismus ihre Totalitarismustheorie zu begründen.

Bini Adamczak verfolgt in ihrem Buch mit dem Titel »Gestern Morgen. Über die Einsamkeit kommunistischer Gespenster und die Re­kon­struktion der Zukunft« eine andere Heran­gehens­weise. Sie versucht die Gratwanderung, die Ideen der »klassenlosen Gesellschaft« aufrechtzuerhalten und gleichzeitig ihre Verwirklichung bzw. ausgebliebene Verwirklichung in der SU nicht als bloßen Unfall der Geschichte zu betrach­ten. Denn die »Verantwortung, die Frage zu klären, warum der Befreiungsversuch in grausamste Herrschaft umschlug, fällt (…) nicht den Kapitalistinnen, sondern den Kommunistinnen« zu. Damit ist die Autorin nicht die erste, viele Stimmen des westlichen Marxismus haben ihre Ansätze erst aus einer Kritik an Russland entwickelt. Es ist jedoch das Verdienst der Autorin, in der gegenwärtigen recht abstrakten Kritik am Kapitalismus geschicht­liche Tatsachen wieder in die Diskussion zu bringen.

Begonnen wird die historische Aufarbeitung mit einigem Pathos. Von »laublosen Bäumen« und den erlöschenden »letzten wärmenden Strah­len der roten Sonne« ist auf den ersten Sei­ten die Rede. Man mag der Autorin diesen geschwollenen pseudo-literarischen Duktus verzeihen. Erstens schwächt sich dieser im Verlauf des Buches ab, und zum anderen ist das, was nun folgt, umso interessanter. Denn Adamczak erzählt die Ereignisse zwischen 1917 und 1939 rückwärts, fängt also gleich mit dem Schlimms­ten an: der Auslieferung von in die SU geflüchteten deutschen und österreichischen Kommunisten durch das sowjetische Volkskommissariat für Inneres (NKWD) an die Gestapo.

Dieser »paradoxe Handschlag« an der deutschen Grenze symbolisiert das Ende aller Ideale, aller Vorstellungen, dass sich in Russland eine emanzipatorische Entwicklung der Gesellschaft abzeichnet. »1939 – 50 Jahre vor dem offiziellen Ende des Sozialismus – stirbt die rus­sische Revolution ihren letzten Tod.« Denn unter Stalin werden nicht nur die einstigen Ideen geopfert, was bereits unter Lenin stattgefunden hat, sondern auch die Körper derjenigen, die bis zum Schluss hinter dem System gestanden haben. »Nicht in absoluten Zahlen, natürlich, aber in relativen waren die Opfer des stalinisti­schen Terrors häufiger in dessen eigenen Rei­hen um­so gefährdeter, je näher am Zentrum sie waren. Die Wahrscheinlichkeit der Verhaftung stieg mit Eintritt in die Partei.«

So begibt sich die Autorin auf die Suche nach all jenen Ereignissen und Brüchen, die die in den »Arbeiter- und Bauernstaat« gesetzten Erwartungen immer mehr ent­täuscht haben, bis irgendwann kaum ein ­Unterschied mehr zu erkennen ist zwischen den russischen und den deutschen staatlichen Sicherheitskräften. Bis der Kommunismus seine eigenen Kinder dem einstigen Feind zum Fraß vorwirft.

Obwohl die Autorin nicht müde wird, auf die Wichtigkeit des jeweiligen historischen Kontextes zu verweisen, will man das Gesche­hene wirklich verstehen, ist ihre Analyse weniger im Sinne einer wissenschaftlich detailverliebten Abhandlung zu lesen denn als ­Assoziationskette mit Mut zur Lücke. Es geht ihr darum, den Faden aufzunehmen und »zurückzuverfolgen, in diesem vielfach verschlun­genen Labyrinth, bis zu dem Punkt, an dem der Weg sich scheidet, deutlich und erstmals, in richtig und falsch, in Ausgang und Sack­gasse«. Die folgenden fünf Kapitel, etwas be­deutungs­schwanger mit »Abschied«, »Klasse«, »Par­tei«, »Versprechen« und »Revolution« be­titelt, konzentrieren sich auf die entscheidenden geschichtlichen Wendepunkte: den »Hitler-Stalin-Pakt«, den »Großen Terror«, die stalinistischen Schauprozesse und ihre Vorläufer, das Monopol der Partei, die Niederschlagung des Matrosenaufstands von Kronstadt und die Entmachtung der Arbeiterräte 1921 sowie den Tod Wladimir Iljitsch Uljanows, genannt Lenin. Zitiert wird meist aus literarischen Verarbeitungen der Ereignisse (nein, nicht nur Peter Weiss), aus Autobiografien und aus Sitzungsprotokollen. Einen zentralen Stellenwert haben zudem die Reflexionen der Autorin, die zwischen den verschiedenen Abschnitten stehen. Dieser Stil, wie auch der zeitlich auf den Kopf gestellte Aufbau machen das Buch tatsächlich zu einer fesselnden Lektüre, die man auch auf dem Sofa und nicht nur fleißig mitexzerpierend am Schreib­tisch lesen kann. Ein Kompliment, das man den meisten historischen Arbeiten mit all ihren Sam­melfußnoten sicherlich nicht machen kann. Doch bei aller Überwindung akademischer Schranken, manchmal wünscht man sich beim Abheben in die Makroebene eine Zeittafel russischer Geschichte und das »Who is Who?« des Bolschewismus ­herbei.

Hat man die hübsch ­aufbereiteten ­historischen Schrecklichkeiten ­einmal hinter sich ­gelassen, stellt sich für den Leser und die Autorin im letzten Kapitel die Frage, was vom sowjetischen Schutthaufen heute noch übrig bleibt. Räteregierung, Frieden mit Deutschland und Landreform als einstiges Programm, aber die Realität spricht Bände: Bürger­krieg, Unterdrückung von Kritik, Personenkult, radikales Arbeitsethos und Zwangskollektivierung der Landwirtschaft mit schätzungsweise 20 Millionen Opfern, wo sollen da die Anknüpfungspunkte für die Gegenwart sein? Hat nicht die Geschichte tatsächlich gezeigt, dass, will man die Ideen realisieren, man zwangsläufig in der brutalen Realpolitik ankommt? Liegt die Lösung nach der sowjetischen Erfahrung nicht gerade in der Mikropolitik begründet?

Man muss der Autorin wirklich dankbar sein, dass sie sich zwar theoretisch klar auf die Seite der »klassenlosen Gesellschaft« stellt, sich bei der Machtfrage einer eindeutigen Antwort jedoch enthält. Hier soll der konkrete Fall entscheiden. Mit Verweis auf die Niederschlagung der gewählten sozialistischen Re­gierung in Chile 1973 und die damalige Ablehnung des bewaffneten Widerstands durch Präsident Salvador Allende schreibt sie: »Die Chancen auf Erfolg dieses Widerstands sind nicht gering, aber ein Bürgerkrieg fordert Hunderttausende Opfer, Verwüstung und Armut auf Jahrzehnte, die kampflose Kapitulation fordert Jahrzehnte Diktatur (…). Die Regierung muss sich schnell entscheiden, und schnell entscheidet sie sich – gegen sich selbst. (…) Sie weiß, den Bürgerkrieg kann sie gewinnen, aber nicht mehr den Sozialismus danach.«

Bini Adamczak: Gestern Morgen. Über die Einsamkeit kommunistischer Gespenster und die Rekonstruktion der Zukunft. Unrast Verlag, Münster 2007, 159 Seiten, 12 Euro. Das Buch schreibt Bini Adamczaks ebenfalls bei Unrast erschienenen Band »Kommunismus. Kleine Geschichte, wie endlich alles anders wird« fort.