Saufen mit System

Die Kirmes-Saison geht langsam zu Ende. Ein Erfahrungsbericht aus Hessen über ein sehr, sehr deutsches Fest. von matthias gärtner, sebastian pistor und henriette quade (Text und fotos)

Eigentlich stammt das Wort Kirmes vom mittelhochdeutschen kirmesse, welches wiederum mit dem Wort »Kirchmesse« verwandt ist und ursprünglich die zum Kirchweihtag gelesene Messe bezeichnete. Kirmes ist das Erinnerungsfest an den Tag der Kirchweihe. Zumeist wurde es auch als Erntedankfest gefeiert. Kirmesfeierlichkeiten heute haben damit herzlich wenig zu tun. Nur der sonntägliche Zeltkirmesgottesdienst erinnert mancherorts noch an den historischen Ursprung. Heutzutage werden die oftmals fünf Tage dauernden Festivitäten von so genannten Burschenschaften organisiert – ein Zusammenschluss der Dorfjugend, dem man sich nur schwer entziehen kann. Burschenschaftsmitglied wird man mit 14 Jahren, nach der Konfirmation. Bereits das Aufnahmeritual verdeutlicht, worum es letztlich bei einer heutigen Kirmes geht. Mit einem Trichter, den man sich übrigens an jedem Kirmestresen für geringes Entgelt ausleihen kann, werden dem Kandidaten wahllos Bier und Schnaps eingeflößt. Anschließend muss er einmal quer durch das Fest­zelt und dann mehrmals um einen Zeltpfahl laufen. Das Ergebnis kann man dann zumeist in Form von Erbrochenem begutachten. Damit ist der Kandidat in die Burschenschaft aufgenommen.

Die Tour beginnt an einem Freitag um 20 Uhr auf einer ganz normalen Kirmes in Florshain. Das Zelt – noch relativ leer – ist liebevoll verziert mit einer Deutschland-Flagge an der Decke und einer, die sich hinter der Theke wiederfindet. Ansonsten blau-gelbe Tücher an den Giebeln. Das sind die Farben der Brauerei »Schwalm­bräu«. So heißt das Bier hier, und so schmeckt es auch. An den Wänden prangt die Werbung der örtlichen Sponsoren, interessanterweise sind es meistens Fahrschulen. Aber auch der örtliche Tattooladen und Malereichfachbetriebe werben um Kunden. Scheinbar gehört das hier zum guten Ton.

Festzeltgarnituren reihen sich aneinander, die Theke ist lang, das Bier billig, die Sekt-Bar, die zuständig für alle harten Getränke ist, heißt »Saustall«. Das muss das Paradies sein für alle, die wenig denken und viel trinken und dann noch weniger denken und noch mehr trinken.

Die Band trällert »Hey, hey, hey, what a beautiful day« ins Mikro. Tapfer werden die ersten Trinkparolen geröhrt.

Ähnliche Bilder dann einige Stunden später auch in Lingelbach, wo eine etwa zehnköpfige Gruppe von Nazis das Zelt betritt und freundlich aufgenommen wird, und in Riebelsdorf. Hier versuchen die Kirmesburschen Neuankömm­linge schon am Eingang zum Genuss ihres selbstgebrannten Schnapses zu überreden. Das alles lässt ahnen, worum es hier geht: saufen, saufen und nochmals saufen. Und das veranstaltet von der örtlichen Burschenschaft. Beinahe jedes Dorf hat seine eigene; es sind eingetragene Vereine, zumeist bestehend aus Angehörigen der ansässigen Jugend, die sich zusammengefunden haben mit dem perfiden Plan, nicht nur viel zu trinken, nicht nur gnadenlos zu saufen, sondern das Ganze auch noch perfekt zu organisieren. Und dabei genießen sie nicht nur die volle Unterstützung der regionalen Brauereien, sondern ebenso das Wohlwollen aller anderen. Seien es Eltern, Kirche, Gemeinde, Sportverein oder Polizei.

Samstagabend. In Lingelbach trägt ein Nazi auf seinem T-Shirt den Spruch: »Wir bleiben braun! Weil es bei uns hier langsam zu bunt wird!«, illustriert ist es mit Portraits von Michel Friedman, Guido Westerwelle und Klaus Wowereit. Mit dem Geruch des schalen Biers in der Nase geht es hier weiter.

Am Samstagabend geht es um den Höhepunkt der Kirmes schlechthin. Denn dann ist nicht nur die musikalisch unterirdische Wiederholung des Geschehens vom Freitag, Samstagabend steht bei den allermeisten Kirmesfesten das »traditionelle« Treffen der Kirmesburschenschaften an. Ein Programmpunkt, der nicht nur gruselig klingt, sondern auch gruselig ist. Die heutige Tour beginnt gegen 21 Uhr im Festzelt in Lingelbach. Gleiches setting wie am Freitag, nur anderes Personal. Während der Freitagabend der Dorfgemeinschaft zu gehören scheint, ist der Samstagabend den Burschenschaften und mithin dem Jungvolk vorbehalten. Dieses füllt dann auch, zwar weniger als befürchtet, aber doch recht zahlreich das Lingelbacher Festzelt. Etwa acht Burschenschaften teilen sich das Terrain. Die Zugehörigkeit zur jeweiligen Burschenschaft wird durch schöne T-Shirts mit Emblemen, Wappen und sonstigen Vereinsabzeichen, die mit viel Stolz und Würde getragen werden, kenntlich gemacht. Die Würde scheint nahezu ausschließlich über Trinkfestigkeit definiert zu sein, auf die man denn auch recht stolz sein kann. Dass sich dabei auch 14jährige bis zur Besinnungslosigkeit betrinken, stört die Kirmesidylle nicht. Jugendschutz oder Sanitäter sind hier totale Fehlanzeige. Was als angenehmer Freiraum von staatlicher Kontrolle anmuten könnte, entpuppt sich schnell als eine organisierte Sauforgie. Junge Volltrunkene werden ab 22 Uhr abwechselnd in das und aus dem Festzelt geführt, sacken während des Laufens in sich zusammen und über­geben sich reihenweise in einen kleinen Graben an der Außenseite des Zelts, als ob er eigens zu diesem Zweck vorhanden wäre.

Der prägendste Eindruck der Kirmes in Lingelbach ist aber unerträgliche Langeweile und Unwohlsein. Die Begeisterung der Landjugend für das aufwändig organisierte Saufgelage mit unfassbar schlechter, von den Jugendlichen selbst gebuchter Musik, völliger politischer Undefiniertheit und damit einhergehender selbstverständlicher Akzeptanz von Nazis innerhalb der hochgeschätzten Gemeinschaft erfasst uns auch an diesem Abend nicht. So ist dann das Wolfgang-Petry-Medley auch Anlass, die Kirmes in Lingelbach zu verlassen. Hölle! Hölle! Hölle!

Zurück in Riebelsdorf, der schon am Vorabend ergiebigeren Kirmes. Wieder wird Selbstgebrannter angeboten, und bereits am Einlass wird man mit der dezenten und gleichsam charmanten Parole des Abends (»Viel Spaß beim Saufen«) begrüßt. Vor dem Zelt ein Weinstand, an dem der Wein gleich flaschenweise über die Theke geht. Ansonsten eine Würstchenbude und ein Toilettenwagen. Das sieht recht trist aus, folgt aber den Prinzipien der Zweckmäßigkeit und Bedürfnisorientierung.

Entsprechend hoch geht es auch her. Mindestens zwölf Burschenschaften geben sich in dem prall gefüllten Zelt die vermeintliche Ehre. Die Music Jokers, Band des Vorabends und offenbar unangefochtene Lokalmatadore der Unterhaltungs­musik, geben alles und holen das letzte aus der deutschen Masse. Bereits gegen 23 Uhr werden Evergreens deutscher Geselligkeit wie »Ein Prosit der Gemütlichkeit«, »In München steht ein Hofbräuhaus« und »Es gibt kein Bier auf Hawaii« mit Inbrunst angestimmt. Aber auch internationale Hits und Rio Reisers »König von Deutschland« sorgen für Begeisterung. Der Selbstbeschreibung der neunköpfigen Tanzkapelle zufolge sind das sowohl die »musikalischen Highlights als auch die Hits von gestern im Gewand des neuen Jahrtausends«. Wahrscheinlich.

Der Frontmann begrüßt nacheinander alle anwesenden Burschenschaften. Diese antworten möglichst laut, grölen Trinkparolen, johlen im Chor oder kreischen einfach irgendwas, Hauptsache, es ist laut, als Zeichen ihrer Anwesenheit. Doch nicht jede Burschenschaft scheint ein ausreichendes Trinkvolumen zu haben. Gleich neben dem Eingang besetzt das, was zu Beginn des Abends wohl einmal eine auf ihre Versoffenheit stolze Burschenschaft war, als versprengtes und schon beinahe bemitleidenswürdiges Häuflein Elend eine Festzeltgarnitur. Kein Grölen mehr entweicht den einst sauflustigen Kehlen, die Gesichter sind von apathischer Gleichgültigkeit gezeichnet, die Augen stieren dumpf ins Leere.

Anderen geht es da deutlich besser: Nur ein paar Meter weiter steht man auf Tischen, frönt dem Alkohol, prostet, trinkt und prostet, jauchzt vor Freude, kreischt »das ist Wahnsinn, du spielst mit meinen Gefühlen – fühle, fühle, fühle, fühle. Und mein Stolz liegt längst schon auf dem Müll, Müll, Sondermüll … «. Doch je später der Abend, desto mehr Kirmesburschen müssen feststellen oder feststellen lassen, dass der Alkohol mal wieder der Stärkere war. Es kann eben nur einen Sieger geben. Und so schwanken die Unterlegenen aus dem Zelt oder werden, gestützt von tapfer weiter Kämpfenden, hinausgetragen. Für die ganz Zähen werden dann um kurz nach halb zwölf die harten Geschütze aufgefahren: Der Trichter geht von einer zur anderen Burschenschaft. Die Mutigen trinken so mal zwei oder drei Bier auf Ex, indem sie ihn in den Mund nehmen und ein Helfer in seine obere Öffnung die Flüssigkeit kippt. Hier in Riebelsdorf wird, wie bei jedem Burschenschaftstreffen an Kirmessamstagen, selbstverständlich »auf Austausch« getrunken. Das bedeutet, die Heimburschenschaft regelt vertraglich mit jeder Gastburschenschaft, wie viel Bier umsonst ausgegeben wird. Genauso viel Bier bekommt sie dann bei deren Kirmes. Dahinter steckt ein ausgeklügeltes System, das garantiert, dass jede Burschenschaft von Frühling bis Herbst jedes Wochenende viel und billig trinken kann. Saufen mit System also, billig und effizient. So mancher entdeckt hier seine Großzügigkeit und gibt ein Bier nach dem anderen aus, allein schon, um gemeinsam anstoßen zu können. So wird gesichert, dass auch ja keiner auf dem Trockenen sitzen muss.

Bei alldem bleibt die eine oder andere Schlägerei natürlich nicht aus. Die Polizei lässt sich hier im Gegensatz zu anderen, eher alternativ anmutenden Veranstaltungen und Festivals dennoch nur dann blicken, wenn es wirklich heftig wird, wenn es Brüche oder Schnittwunden gibt – und jemanden, der die Polizei auch anruft. Dabei gäbe es hier für sie doch ganz viel zu sehen, allein aus Gründen des Jugendschutzes.

Kirmessen sind also die Institutionalisierung des Saufens, organisiert und gepflegt von den Burschenschaften, die auch die Jüngsten schon früh eingliedern.

Aber wie kann das alles sein in einer Region, die zwar ländlich ist, aber durchaus nicht gebeutelt von hoher Arbeitslosigkeit, wegziehender Jugend und Zukunftsangst, in der das Vereinsleben blüht, die Kirche wenigstens noch bedingt von Bedeutung ist; wo also für die individuelle Sozialisation recht günstige Bedingungen herrschen sollten?

Das Saufen selbst gehört hier zur Sozialisa­­tion. Die Eingliederung der Konfirmanden in Burschenschaften erfolgt nach einem traditionellen Initiationsritus. Es genießt nicht nur eine kulturelle Verankerung, sondern ist selbst Teil dörflicher Kultur. Und die Kirmes ist der Ort, an dem diese Kultur am heftigsten praktiziert wird. Sich ihr zu entziehen, heißt hier, sich der Gefahr sozialer Ausgrenzung auszusetzen. Daher ist auch jeder Bürgermeister, Pfarrer oder Dorf­fleischer darauf bedacht, sich zumindest ab und zu mal auf einer Kirmes blicken zu lassen und das eine oder andere Fässchen zu spendieren.

Die Frage, die nach zwei Kirmesabenden offen bleibt, ist folgende: Was soll das alles? Beim Zeltgottesdienst am Sonntag in Riebelsdorf wird man über die Hintergründe vielleicht schlauer. Kurz vor Beginn schleppen sich vier volltrunkene Endzwanziger, die offensichtlich den geregelten Abtransport vom Burschenschaftstreffen verpasst haben, aus dem Festzelt. Die Festzeltbänke sind mit weißen Papiertüchern und Ehrenkränzen geschmückt. Dazu gibt es kostenlos kaltes Wasser. Das ist eine nette Geste und zudem sehr angebracht. Den Geruch der vorigen Nacht, bestehend aus einer Mischung von Schweiß, Alkohol und Erbrochenem, bekommt man trotz weit geöffneter Zeltwände nicht weg. Statt der Dorfjugend trifft sich hier die gesetztere Dorfbevölkerung inklusive dem jüngsten Dorfnachwuchs.

Pfarrerin Sabine George lädt dazu ein, »fröhlich miteinander Gottesdienst zu feiern«. Sie hofft, dass dieser »genauso schön« wird wie das ganze Fest. Gebetet wird für das Fest, »was uns zusammenführt und ausgelassen feiern lässt«. In der Tat, eine Kirmes ist alles andere als langweilig. Abschließend gibt es noch Gottes Segen für den Rest des Festes, verbunden mit der Hoffnung, dass es »heute und morgen genau so fröhlich weitergeht und endet, wie es begonnen hat«. Fünf Minuten nach dem Ende des Gottesdienstes gibt es – spendiert von vielen Honoratioren des Dorfes – garantierte 300 Liter Freibier.

»Die Kirmes ist für das Dorf gemeinschaftsfördernd und sehr schön«, sagt die Pfarrerin. »Ältere sowie jüngere Einwohner unterstützen das Fest«, auch sie könne sich dem nicht entziehen, wenn sie als Pfarrerin am Freitagabend mitfeierte, komme es in der Gemeinde unglaublich gut an, sagt sie. »Allerdings ist der Alkoholkonsum zum Teil schon grenzwertig«, räumt sie ein. »Die Kirmes ist eigentlich kein ureigenes Dorffest mehr, sondern, da die Leute mobiler geworden sind, ein Event für die gesamte Region.« Zudem verweist sie auf die eigentliche Herkunft der Kirmes, die eng mit kirchlicher Tradition verbunden ist. »Bedauerlich war, dass beim diesjährigen Zeltgottesdienst nur wenige Burschenschaftler anwesend waren«, stolz fügt sie allerdings hinzu: »Jeder, der nicht anwesend war, muss 40 Euro in die Burschenschaftskasse zahlen.«

Somit hat selbst das Fehlen beim Gottesdienst für das Kirmessaufen was Gutes. Mit dem so eingetriebenen Geld kann man sich bei der befreundeten Burschenschaft ein Fass Bier mehr leisten. Saufen mit Gottes Segen.