Zehn Urteile und kein Ende

In Madrid wurden die Urteile gegen die mutmaßlichen Bombenleger von 2004 gesprochen. Die wenigsten wollen jedoch das Ergebnis akzeptieren, und die politische Auseinandersetzung geht weiter. von thorsten mense

»Was für eine Gerechtigkeit ist das denn?« rief eine Frau spontan, als am Mittwoch der vergangenen Woche der Richter Javier Gómes Bermúdez das Urteil wegen des Attentats in Madrid am 11. März 2004 verkündete. Damals waren 191 Men­schen getötet und über 1 800 verletzt worden, als in den frühen Morgenstunden zehn Bomben in vier vollbesetzten Nahverkehrszügen explodierten. Nach einem achtmonatigen Prozess mit über 400 geladenen Zeugen und Experten, 100 000 Sei­ten Ermittlungsakten und Live-Übertragung im Internet hat das Gericht nun die Urteile gesprochen und dabei manchen Beobachter überrascht.

Sieben Angeklagte wurden freigesprochen, mehre­re mutmaßliche Attentäter bekamen statt der erwarteten 39 000 Jahre nur zwischen zehn und 20 Jahren Haft. Fast alle anwesenden Opfer und Angehörigen, von denen viele wegen des Platzmangels vor dem Gericht ausharren mussten, äußerten im Anschluss ihre Empörung. Unter den Freigesprochenen ist auch Rabei Osman el-Sayed, »der Ägypter« genannt, der bisher als einer der Drahtzieher galt und wegen anderer Delikte in Italien im Gefängnis sitzt. Die Verteidigung konnte jedoch nachweisen, dass der wichtigste Beweis, ein mitgeschnittenes Telefonat, falsch übersetzt worden war. Der ersten Übersetzung der italienischen Polizei zufolge hatte »der Ägypter« gesagt, das Attentat sei »seine Idee« gewesen und von »seiner Gruppe« verübt worden. Alle nachfolgenden Übersetzungen ergaben jedoch, dass er nicht von seiner »Gruppe«, sondern von »seinen Leuten, seinem Volk« gesprochen habe. Der Satz, in dem er die Anschläge als seine Idee bezeichnet haben soll, taucht im Original überhaupt nicht auf. Dies war nur eine von unzähligen Ungereimtheiten im Laufe der Ermittlungen.

Die Richter hatten die schwere Aufgabe, ein kaum fassbares Ereignis erklären und gleichzeitig juristisch beurteilen zu müssen. Dies alles in ­einer Situation, in der alle politischen Seiten versuchten, das Attentat für ihre jeweiligen Zwecke zu instrumentalisieren. Die wildesten Verschwörungstheorien zirkulieren (Jungle World 10/07), und viele glauben immer noch, dass die baskische Eta etwas damit zu tun habe. Die konserva­tive Volkspartei (Partido Popular, PP) hatte diese These bereits direkt nach den Anschlägen 2004 vertreten. Wegen der offensichtlichen Desinformationskampagne und der Manipulation der Ermittlungen wurde sie drei Tage später bei den Parlamentswahlen abgewählt. Aber bis heute hal­ten Angehörige der Partei und ihnen nahe stehende Opferverbände an der Eta-These fest, obwohl sie bereits mehrmals widerlegt wurde und keine Beweise für eine Verbindung existieren.

Fehlende Beweise sind jedoch bekanntlich die besten Argumente von Verschwörungstheorien. Nach der Urteilsverkündung erklärte dementspre­chend der Vorsitzende des PP, Mariano Rajoy, dass seine Partei »jegliche weitere Untersuchung« unterstütze. Auch María Angeles Domínguez, die Vorsitzende des Opferverbandes »Hilfe für die Opfer des 11. März«, hofft, dass es weitere Untersuchungen gibt, um herauszufinden, »ob diejenigen, die auf der Anklagebank sitzen, die Schuldigen sind oder nicht«. Beide erwähnten die Eta nicht explizit, aber der spanischen Öffentlichkeit ist klar, in welche Richtung weiter ermittelt werden soll. Die von vielen geteilte Hoffnung, dass die Urteile dem politischen Theater auf Kosten der Opfer ein Ende setzen würden, wurde offenbar enttäuscht. Innenminister Alfredo Pérez-Rubalca­ba forderte daher Mariano Rajoy auf, das richterliche Urteil zu akzeptieren und gemeinsam mit ihm den Satz zu wiederholen: »Die Eta war es nicht.« Eduardo Zaplana, Fraktionssprecher der Volkspartei, jedoch konterte, die Regierungspartei solle zugeben, dass nicht der Irak-Krieg für die Anschläge ursächlich sei. Viele Spanier sehen die Motivation der Attentäter in der Beteiligung ihres Landes am »Krieg gegen den Terror«. Nachdem die Sozialdemokraten (Psoe) kurz nach dem Attentat 2004 an die Macht kamen, war der Rück­zug der spanischen Truppen eine der ersten Maß­nahmen der neuen Regierung. In Bezug auf die im kommenden Frühjahr bevorstehenden Wahlen fügte Zaplano hinzu, dass der Psoe »erneut das Attentat benutzt, um die Wahlen zu gewinnen«.

Die Richter versuchten, diese Streitigkeiten aus der Urteilsfindung herauszuhalten. So widerlegte der Vorsitzende Richter Bermúdez zu Beginn der Urteilsverkündung zuerst die verschiedenen Punk­te, auf denen die Verschwörungstheorien aufbauen, die die ETA oder sogar den Psoe hinter den Anschlägen sehen. Ebenfalls ließ er sich nicht auf Spekulationen über die Hintergründe der An­schläge ein.

Während die Richter bei sieben Beschuldigten »im Zweifel für den Angeklagten« entschieden, bekamen drei Hauptangeklagte für jeden bei den Anschlägen Getöteten und Verletzten jeweils 20 Jahre Haft, insgesamt zwischen 34 710 und 42 919 Jahre. Dieses symbolische Strafmaß soll den Opfern ein Gesicht geben und den Massenmord etwas begreifbarer machen. Da es in Spanien aber keine lebenslängliche Freiheitsstrafe gibt, werden die Verurteilten in spätestens 40 Jahren wieder auf freiem Fuß sein. Andere Angeklagte wurden wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung oder Hilfe bei der Sprengstoffbesorgung zu Haftstrafen zwischen drei und 23 Jahren verurteilt. Neben dem Freispruch des »Ägypters« sorgten auch die Freisprüche der Geschwister Carmen und Antonio Toro für Verwunderung. Bisher galt deren Beteiligung an der Beschaffung des Sprengstoffs als nachgewiesen.

Regierungschef José Luis Rodríguez Zapatero lobte trotzdem das Ergebnis des Prozesses und betonte, es habe sich gezeigt, dass die Bürger »in die Arbeit der Sicherheitskräfte vertrauen können«. Wobei gerade dies fraglich ist, denn die Verbindungen beziehungsweise das Versagen der Sicherheitskräfte wurden im Prozess nicht thematisiert. Wieso Spitzel wie Antonio Toro und José Emilio Suárez Trashorras, der nun zu 34 710 Jahren Haft verurteilt wurde, den Sprengstoff organisiert hatten und warum die zum Teil langjährige Über­wachung mehrerer späterer Attentäter kurz vor den Anschlägen eingestellt wurde, war kein Thema. Ebenso wenig, warum ein ehemaliger Polizist nicht auf der Anklagebank saß. In seinem La­den waren Handys freigeschaltet worden, die dann als Zünder für die Bomben dienten. Mehr noch: Einem polizeilichen Untersuchungsbericht zufolge soll er die Zünder selbst installiert haben (Jungle World 35/2005). Es gibt noch viele weitere offene Fragen, die zu Spekulationen einladen.

In der Öffentlichkeit werden aber diese Fragen derzeit kaum thematisiert, ebenso wenig wie die ideologischen Hintergründe des islamistischen Terrors. Die große Tageszeitung El Pais, die den Sozialdemokraten nahe steht, titelte am Tag nach dem Urteil – mit Verweis auf die vom PP vertretene Eta-These: »Verurteilt: die Lüge«. Am selben Tag war in der dem PP nahe stehenden Zeitung El Mundo hingegen zu lesen, dass immer noch offen sei, »wer, warum, wann und wo« das Attentat geplant habe.

Dass islamistische Gruppen häufig autonom handeln und zur Ausführung ihrer Anschläge we­der viel Geld noch Anführer brauchen, können viele nicht verstehen. »Wer hat den Befehl gegeben?« und »Wer steckt dahinter?«, in vielen Kommentaren tauchen diese Fragen auf, die nicht im­mer auf die Eta zielen, sondern oft nur ein Zeichen für die Hilflosigkeit im Umgang mit dem Islamismus sind, in dessen Namen solche Massaker begangen werden. Quer durch die politischen Lager sehen daher viele das Urteil keineswegs als Ende der schrecklichen Geschichte, sondern als Anfang, um »die ganze Wahrheit« ans Licht zu bringen. Je nach politischem Standpunkt würde dies bedeuten, die Eta, den damaligen Regierungschef José María Aznar, Ussama bin Laden oder die USA als Drahtzieher zu benennen. Die in der linken baskischen Zeitung Gara veröffentlichte Kritik, dass die »Wurzeln« sowohl des 11. Sep­tember als auch der Madrider Anschläge, die den Autoren zufolge im Irak und in Afghanistan liegen, im Urteil ebenso wenig erwähnt werden wie die »politische Verantwortlichkeit derjenigen, die die Spirale der Gewalt antreiben«, gehört im Vergleich noch zu den realitätsnahen Kommen­taren von linker Seite.

Einzig der Psoe und Pilar Manjón, die Vorsitzende der »Vereinigung 11. März«, sehen in den Verurteilten auch die Schuldigen und sehen den jihadistischen Charakter der Anschläge durch das Urteil bestätigt. Trotzdem kündigte Manjón eben­so wie die anderen Opferverbände an, in Berufung zu gehen, da ihnen die Strafen zu gering sind und sie die Freisprüche nicht akzeptieren wollen.

Aber auch die Verteidigung will die Urteile nicht hinnehmen. Zehn der 21 Verurteilten sind indessen in einen Hungerstreik getreten, um gegen die »ungerechte und unverhältnismäßige« Strafe zu protestieren.