Wir holen den großen Bruder!

Eine grundsätzliche politische Kritik an der Vorratsdatenspeicherung findet kaum statt. Ihre Gegnerinnen und Gegner begnügen sich damit, auf einen Einspruch des Bundesverfassungsgerichts zu hoffen. kommentar von ron steinke und tobias singelnstein

In 43 Städten fanden Proteste statt: Vor dem Rathaus in Ulm rezitierte eine Gruppe einzelne Passagen aus dem Grundgesetz, in Köln trug der Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung symbolisch das Grundgesetz zu Grabe, und in Leipzig fanden sich Demonstrierende gar zu einer andächtigen »Grundgesetz-Niederlegung« in der Nikolai-Kirche zusammen. Dennoch beschloss der Bundestag am Freitag voriger Woche die so genannte Vorratsdatenspeicherung.

Immer wieder wurde bei den Protesten auch das Bundesverfassungsgericht ins Spiel gebracht, als verbündete Institution im Hintergrund, die das Gesetz notfalls noch verhindern werde, wenn die Politik nicht freiwillig nachgebe. Seit die Vorratsdatenspeicherung tatsächlich beschlossen ist, ähnelt die Situation allerdings der, in der ein Zehn­jähriger auf dem Schulhof mit einem großen Bruder aus der 9. Klasse droht, der noch nirgends gesichtet worden ist. Was, wenn das Bundesverfassungsgericht überhaupt nicht mitspielt?

Die Sicherheitsgesetze der vergangenen Jahre, mit denen vor allem die präventive und straf­prozessuale Überwachung verstärkt worden ist, sind dem Bundesverfassungsgericht in großer Zahl vorgelegt worden, und das Gericht hat sie mehrheitlich gebilligt. Selbst das Urteil zum »Großen Lauschangriff« aus dem Jahr 2004, das Bürgerrechtler derzeit gerne als großen Erfolg anführen, schränkte die Befugnisse der Polizei lediglich ein. Beendet wurde das umstrittene Abhören von Privatwohnungen aber nicht.

Wie auch? Der Prüfungsmaßstab des Gerichts, das Grundgesetz, sieht die Möglichkeit der heimlichen Überwachung von Privatwohnungen ausdrücklich vor – ebenso wie die Möglichkeit der heimlichen Überwachung der Telekommunikation. Das höchste deutsche Gericht ist daher weit davon entfernt, die Ausbreitung staatlicher Überwachung grundsätzlich zu verhindern.

In dem Bemühen, das Bundesverfassungsgericht auf ihre Seite zu ziehen, argumentieren dennoch nicht wenige Kritikerinnen und Kritiker der gegenwärtigen Sicherheitspolitik vor allem mit Stichworten aus Karlsruhe. Dabei schreiben rechts­staatliche Prinzipien vor allem vor, nach welchen formalen Kriterien staatliches Handeln erfolgen muss. Sie sagen noch nichts darüber aus, zu welchem Zweck es erfolgen darf. Gerade hier findet aber ein grundlegender Wandel statt: War bislang stets ein Tatverdacht gegen eine bestimmte Person erforderlich, damit die Strafverfolgungsbehörden eingreifen konnten, so wird heutzutage eher die Bevölkerung als Gesamtheit potenziell gefährlicher Individuen in den Blick genommen.

Eine eigene Meinung dazu zu entwickeln, die über das eng begrenzte Gebiet des Verfassungsrechts hinausgeht, wäre eine wesentliche Voraussetzung, um der kontinuierlichen Ausweitung staatlicher Überwachung etwas entgegensetzen zu können. Paradoxerweise engagieren sich aber inzwischen viele Kritikerinnen und Kritiker der Sicherheitsgesetzgebung hauptsächlich für die Stärkung der dritten Gewalt im Staate gegenüber der zweiten. Ein großer Teil der Empörung besteht oft darin, dass »die Exekutive« es an Respekt vor Gerichtsurteilen mangeln lasse.

Die Proteste gegen die Volkszählung im Jahr 1983, an die der Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung heute anknüpfen möchte, waren noch von dem Hauptargument getragen, dass man die staatlichen Autoritäten nicht bei ihrer Politik unterstützen mochte – erst recht nicht mit Informationen über die eigene Person, von denen man nicht wusste, was später mit ihnen geschehen würde. Das mag schlicht gewesen sein. Wenn aber bei den heutigen Kritikerinnen und Kritikern der sich verschärfenden Sicherheitspolitik die Hoffnung auf das Bundesverfassungsgericht bereits das höchste der Gefühle darstellt, dann findet eine grundsätzliche Kritik gar nicht mehr statt. Dann streiten am Ende Bürgerrechtler mit Innenpolitikern darum, wessen Liebe für das Grundgesetz inzwischen größer ist.