»In Italien werden meine Fotos als peinlich empfunden«

Als Journalistin der linken Tageszeitung L’Ora begann sie in den siebziger Jahren, in Palermo zu fotografieren. Es war die Phase, als die Mafiakriege um die Vorherrschaft unter den Clans der Cosa Nostra eskalierten. Ihre Schwarzweiß-Fotografien, die oft unmit­telbar nach einem Mord aufgenommen sind, dokumentieren die Verbrechen und zeigen eine Kultur, die von der Mafia geprägt ist. Im Interview spricht LETIZIA BATTAGLIA über kulturelle und politischen Strate­gien gegen die Organisierte Kriminalität.

Der Erich-Salomon-Preis der Deutschen Gesell­schaft für Fotografie, diese höchste Auszeichnung, wurde Ihnen für Ihre engagierten Fotos verliehen. Wie hat die italienische Presse diese Würdigung Ihres Lebenswerks kommen­tiert?

Es gab bis auf eine kurze Notiz in der Tageszeitung La Repubblica und kleine Pressemeldungen in anderen Zeitungen wenig darüber zu lesen, keine Kommentare oder Artikel. In Italien werden meine Fotos als peinlich empfunden. Man mag es nicht besonders, dass ich sie herum­zeige.

Sie haben einmal gesagt, dass es keine bewuss­te Entscheidung war, mit der Kamera ge­gen die Mafia zu kämpfen, sondern eher eine Auf­gabe, die sich Ihnen gestellt hat. Wann wur­de Ihnen die Wirkung Ihrer Arbeiten klar?

Ich habe versucht, mit der Kamera zu dokumen­tieren und anzuklagen, aber die ersten zehn Jahre war mir die Wirkung meiner Arbeit überhaupt nicht bewusst. In Italien bekam ich für meine Fotos zunächst keine Bestätigung. Ich or­ganisierte Ausstellungen über und gegen die Mafia, aber es wurde nicht zur Kenntnis genom­men. So richtig bewusst wurde mir die Wirkung erst, als mir 1986 in New York der W. Eugene-Smith-Preis für Humanistische Fotografie verliehen wurde.

Welche Bedeutung hat die Fotografie in Ihrem Leben?

Die Fotografie ist für mich wie persönliche Befreiung und gleichzeitig ein Bewusstwerdungsprozess dessen, was sich auf Sizilien abspielt.

Wie leben Sie mit der Bedrohung?

Ich hatte die ganzen Jahre über Angst. Das bedeutete aber nicht, aufzugeben oder aufzuhören, etwas gegen die Mafia zu tun. Es war offensicht­lich, dass die Mafia mordete. Es herrschte ein Bürgerkrieg, und ich befand mich mittendrin in dieser Tragödie. Ich wurde bedroht und hatte viele Probleme. Natürlich wusste ich, wie gefährlich meine Arbeit war.

Auch heute ist es riskant, eine klare öffentliche Positon gegen die Mafia zu beziehen. Im Allgemeinen ziehen es die Leute doch vor, ein ruhiges Leben zu führen.

Nach der Ermordung der beiden Staatsanwäl­te Giovanni Falcone und Paolo Borsellino 1992 hatte die Antimafia-Bewegung einige Erfolge im Kampf gegen die Kriminalität, in der Regierungszeit Silvio Berlusconis änderte sich das, unter anderem weil die Zeugenschutzprogramme reduziert wurden. Ist die Bewegung gegen die Mafia heute noch relevant?

Es gibt das Aktionsbündnis »via pizzo«, eine wich­tige Initiative, die Demonstrationen organisiert. Es ist aber nicht möglich, einer Bevölkerung einen Widerstand abzuverlangen, wenn von der Politik Italiens und der europäischen Union nichts unternommen wird, um die Mafia zu zerschlagen. Was kann die Bevölkerung tun? Gegen die Mafia kämpfen, wenn 80 Prozent aller Geschäftsleute Schutzgelder zahlen? Wenn weiter Drogenhandel betrieben wird und Politiker geschmiert werden? Die meisten Leute hier haben resigniert. Natürlich gibt es immer noch einige engagierte Gruppen, die weiter an den Kampf gegen die Mafia glauben.

Der italienische Innenminister Giulio Amato hat kürzlich gesagt, dass man die Cosa Nos­tra enthaupten könne, dass sich der Organismus aber immer wieder reproduzieren würde. Die Mafia sei bereits eine Wirtschaftsmacht mit unbegrenzten ökonomischen Ressourcen und gehe mit Gewalt gegen Konkurrenten und die Verwaltung vor. Hat die italienische Regierung die Dimensionen der Mafia erfasst?

Es ging gerade durch die Presse, dass das Un­ter­nehmen Mafia in Italien 90 Milliarden Euro Um­satz im Jahr nur durch Schutzgelder, Drogen- und Menschenhandel und andere kriminelle Machenschaften erzielt hat. Das entspricht sieben Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Der ita­lienische Gewerbeverband hat diese Zahlen der Regierung vorgelegt. Man versteht also, was die Mafia ist. Sie ist eine Macht im Staat und kann das Geld verwalten, Richter, Politiker, Polizisten, Intellektuelle kaufen. Die Politik hat es in den letzten hundert Jahren zugelassen, dass die Mafia so stark werden konnte. Aber es stimmt einfach nicht, dass sich die Mafia wieder reproduziert, wenn sie erst einmal zerschlagen wäre. Selbst ich – eine 72jährige Frau, nicht mehr ganz jung – glaube noch, dass man mit den rich­tigen Gesetzen etwas verändern kann. Und mit Kultur natürlich – aber das müsste schon etwas mehr sein, als das, was jetzt hier unten im Süden ankommt. In Mailand werden Eltern, die ihre Kinder nicht zur Schule schicken, von der Polizei dazu aufgefordert. Hier passiert dagegen nichts. Diese Kinder leben in einem sozialen Zusammenhang, der der Mafia unterstellt ist. Sie ist der Arbeitgeber.

Welche Rolle kommt der Europäischen Union im Kampf gegen die Organisierte Kriminalität zu?

Ich habe lange an Europa geglaubt und immer ge­sagt, dass Europa und seine Gerichtshöfe uns retten könnten. Aber von Europa kommt keine Hilfe. Ich verstehe nicht, wie die europäische Ge­meinschaft akzeptieren kann, dass auf Sizilien, in Kalabrien, Kampanien, die Cosa Nostra, die N’drangheta, die Camorra herrschen. Kann man noch von einem zivilisierten Land sprechen, wenn die Bevölkerung im Süden mit dem Problem der Mafia allein gelassen wird? Und das mit Zustimmung der Regierungen!

Europa schickt zwar viele Milliarden Euro in den Süden, die aber korrupt verwaltet werden, da wirkliche Kontrollen fehlen. Den Richtern fehlt das Papier zum Drucken, die Polizei hat alte Autos, die Mafiosi die schnellsten. Es ist ein ungleicher Kampf geworden.

Francesco Forgione wurde zum neuen Präsidenten der Antimafia-Kommission ernannt. Die Kommission schlägt einen Ehrenkodex für die Parteien vor, damit Politiker mit Mafia-Verbindungen aus den Gruppierungen ausgeschlossen werden. Was denken Sie darüber?

Es wäre dumm zu glauben, dass es funktioniert. Forgione sagt das, was alle sagen, die sich eine saubere Welt ohne Gewalttätigkeit wünschen. Es ist jedoch klar, dass die Parteien Schurken aufnehmen, denn sie werden gewählt, weil sie Leute vorher bestochen haben. Sizilien hat einen Regionalpräsidenten, der wegen Mafiaverstrickungen angeklagt ist. Dieser Mann wird ins Fernsehen eingeladen, wo er seine Lügen verbreiten kann. Genauso wie Giulio Andreotti den hiesigen Politikern von Nutzen war.

Gibt es auch kritische Stimmen in den staatlichen Institutionen?

Sicher, aber diese sind isoliert. Es gibt auch wun­derbare Polizisten. In Trapani z.B. Guiseppe Linaris, den Leiter einer mobilen Eingreif­truppe. Er wird gemieden, hält sich immer in seiner Ka­serne auf und hat kein Privatleben mehr.

Der Kampf gegen die Mafia werde erschwert, weil in Italien ein ziviler Patriotismus fehle, der aus dem Egoismus des Korporativsystems führen könnte, meint der ehemalige Präsident der Antimafia-Kommission Luciano Vio­lante. Findet die Mafia in Sizilien das Milieu vor, um sich zu entwickeln und ihre Immunität zu wahren?

Ja, denn in der Verwaltung sitzen die Leute, die mit der Mafia im geheimen Einverständnis ko­operieren. Luciano Violante ist eine großartige Persönlichkeit, doch von ihm allein hängt es nicht ab. Den nachfolgenden Generationen fehlen Vorbilder. Die Gesellschaft schreitet in dieser Weise voran, ohne ethische, humanistische Werte. Und auf Sizilien haben wir einen korrupten Präsidenten, der jedem einen Gefallen erweist und Arbeit und Geld verschaffen kann.

Armut und Arbeitslosigkeit begünstigen die Mafia, schrecken andererseits aber nicht-mafiotische Unternehmen ab. Ein Teufelskreis?

Ja, jeder, der hier eine kleine selbständige Tätigkeit aufnehmen möchte, wird gezwungen, Schutz­geld zu zahlen. Daher kommen viele Unternehmen nicht nach Sizilien. Ich hatte mal einen kleinen Buchladen. Zwei, drei Monate nach der Eröffnung kam jemand vorbei, der um eine Spende für Häftlinge bat. Ich gab ihm zehn Euro, und als er mich so merkwürdig ansah und meinte, das sei zu wenig, gab ich ihm 20 Euro. Dann kam er wieder, und ich verstand, dass er Schutz­geld kassieren wollte. Der Laden war ein völlig unkommerzielles, kleines kulturelles Zentrum, wo ich Fotografie-Ausstellungen organisierte und nebenbei meine Bücher verkaufte. Ich musste den Laden schließen, weil ich mich dieser Schutz­geldforderung nicht widersetzen konnte.

Die Regierung hat ein Pilotprojekt gestartet, das vorsieht, die Geschäfte und Unternehmen in einigen Regionen Süditaliens vor der Schutz­gelderpressung zu schützen. Was denken Sie darüber?

Die Summe der jährlich kassierten Schutzgelder in Italien ist mit 14 Milliarden Euro entsetzlich hoch. Doch wie kann die Polizei die einzelnen Geschäftsleute vor der Mafia schützen? Wenn man an all die Richter und Polizisten denkt, die ermordet wurden, obwohl sie geschützt wurden … Es müsste sich eine große kulturelle Bewe­gung gegen die Schutzgelder erheben und damit Schluss machen: Basta pizzo! Die Polizei kann da nichts ausrichten. Wenn ich nicht zahle und einen öffentlichen Skandal in der Zeitung daraus mache, gehen die Erpresser zum nächsten.

Der Papst hat kürzlich in Neapel die Gewalt kritisiert und die Neapolitaner dazu aufgefor­dert, sich gegen die Camorra zu engagieren. Reine Rhetorik?

Absolut. Die Priester und Pfarrgemeinden in den Dörfern organisieren ihre Feste mit dem Geld der Mafia. Es gibt viele Beispiele von Priestern, die mit der Mafia verbunden sind. Ein anderer Priester, der sich öffentlich gegen die Mafia gestellt hat, wurde ermordet. Der Vatikan sollte sein Geld besser dazu hergeben, Arbeitsplätze in Sizilien zu schaffen.

»Gomorrha«, Roberto Savianos Buch über die Camorra in Neapel, ist auch in Deutschland und anderen europäischen Ländern ein Bestseller. Wie bewerten Sie seinen Erfolg?

Es ist nützlich und ermutigend, dass in Deutsch­land und Frankreich über das Thema Mafia geredet wird und Artikel über das Problem veröffentlicht werden.

Eine Bühnenversion von »Gomorrha« hatte in Italien bereits Premiere, eine Verfilmung ist geplant. Wird das Thema durch die Fiktionalisierung nicht auch verharmlost?

Die Filme, die das Fernsehen über die Mafia zeigt, dienen in den meisten Fällen nur dazu, die Phan­tasie anzuregen. Die Mafiosi – und ich spreche jetzt nicht von dem, was Saviano plant – werden als interessante Personen dargestellt. Die Mafiosi selbst mögen diese fiktionalen Darstellungen, denn sie zeichnen das falsche Bild eines großzügigen und väterlichen Menschen. Aber ein Mafioso ist nie großzügig, sondern ein Krimineller, dem es nur um Geld geht und darum zu befehlen.

Zufällig habe ich meinem Enkel dabei zugesehen, wie er mit seiner Playstation das Spiel »Die Mafia« spielte. Das Spiel müsste indiziert werden, denn es erregt die jugendliche Phantasie über Macht und Blut, etwas, das die Aufmerksamkeit von Jugendlichen immer stimuliert hat.

Gibt es für Sie noch Orte, wo Sie sich frei und sicher fühlen?

Ich treffe mich gerne mit den Frauen von der Zeitung mezzo cielo, die ich zusammen mit ihnen herausgebe. Dort finde ich einen freien Raum.

Woran arbeiten Sie gerade?

Zurzeit mache ich einen Film über die beiden ermordeten Staatsanwälte Falcone und Borsel­lino und über alle anderen, die zur Schlachtbank geführt wurden.

Interview/Übersetzung aus dem ­Italienischen: Bettina Jänisch