Mr. New York ist wieder da

Rudolph Giuliani führt seit Wochen das Rennen um die Präsidentschaftskandidatur der amerikanischen Republikaner. Dabei verlässt er sich vor allem auf sein Image als Krisenmanager. Am 11. September 2001, am Ende seiner Amtszeit, wurde er »Amerikas Bürgermeister«. Sechs Jahre nach Nine eleven ist er, insbesondere in New York, umstritten. von lia petridis

Mit ein bisschen Glück findet man Philip Belpasco täglich vor der Zugstation am Ground Zero, der beliebten Touristenattraktion in Downtown Manhattan. Viel zitierter Ort einer Tragödie, an dem ein paar Geschäftstüchtige Fotos des brennenden World Trade Center verkaufen. Das ist der Ort, an dem der Mythos Rudolph Giuliani vor den Augen der Öffentlichkeit auf den Trümmern der Twin Towers erschaffen wurde.

Eigentlich sollte Belpasco dort nicht mehr sitzen. Während der Amtszeit von Giuliani als Bürgermeister von New York City, von 1994 bis 2001, verschwand ein Großteil der Obdachlosen an die Stadtränder oder ins nahe gelegene New Jersey. Straßenmusiker und -philosophen wie er haben es seit den neunziger Jahren schwerer. »New York City ist so wunderbar sauber, seit Giuliani mit den Obdachlosen aufgeräumt hat«, grinst Belpasco und hält seine Querflöte an den Mund. Die soll er hier nicht mehr spielen. Er errege öffentliches Ärgernis, wie ein Dokument bezeugt, das er mit sich herumträgt. »Ich verklage gerade die Stadt, weil sie mir mein Grundrecht entzieht. Dieser Platz ist öffentlich. Ich kann hier sitzen, solange ich will.« Die Polizei am Ort sieht das anders. Ende Oktober wurde Belpasco von einem Wachmann aufgegriffen und in Handschellen abgeführt. In einem Anhänger auf der hinteren Seite der Baustelle Ground Zero setzte er Belpasco auf einen Stuhl, die Hände nach wie vor in Handschellen, und machte Anstalten, ihm die Kapuze eines Regenmantels über das Gesicht zu ziehen. »Ich hatte Angst, er würde mich ersticken«, erzählt Belpasco, der mit einer solchen Situation nicht zum ersten Mal konfrontiert wurde.

Ein Verdienst, das man dem ehemaligen Bürgermeister von New York bescheinigt, ist der angeblich drastische Rückgang von Verbrechen. Nach einer Statistik des amerikanischen Justizministeriums fiel die Anzahl der Morde im Staat New York in den Jahren 1994 bis 2001 von 11 100 auf 5 000, die Vergewaltigungen sanken von 25 900 auf 18 700, die Überfälle von 476 700 auf 192 300 und die Körperverletzungen von 451 900 auf 300 000.

In seiner ersten Legislaturperiode, zwischen 1994 und 1997, profilierte sich Giuliani von Anfang an als Mann von Law and Order. Er arbeitete eng mit dem Beauftragten des Polizeidezernates der Stadt, Bill Bratton, zusammen. Eines der wichtigsten Ergebnisse dieser Zusammenarbeit war die Einführung eines Gesetzes zur Bekämpfung von Kriminalität auf den Straßen von New York, das an der Theorie des »zerbrochenen Fensters« von James Q. Wilson orientiert ist. Diese Theorie besagt, dass auch minimale Vergehen, wie Graffiti, das Benutzen öffentlicher Verkehrsmittel ohne gültigen Fahrschein oder das Putzen von Windschutzscheiben an Ampelkreuzungen, hart zu ahnden seien, um ein Exempel für die öffentliche Ordnung zu statuieren. Zudem arbeiteten Giuliani und Bratton mit dem System CompStat, einem vergleichenden statistischen Programm, das die Orte, an denen Verbrechen stattfinden, geographisch erfasst. Damit können kriminelle Muster erstellt und die Arbeitsleistung der Polizisten bewertet werden.

Inwiefern das saubere, touristenfreundliche, neue New York allein Giulianis Verdienst ist, bleibt jedoch fraglich. Noch bevor er zum Bürgermeister gewählt wurde, war die Kriminalitätsrate landesweit bereits gesunken. Das amerikanische Justizministerium belegt mit einer Statistik, dass die Kriminalitätsrate in den Vereinigten Staaten – das beinhaltet Morde, Vergewaltigungen, Überfälle und Körperverletzungen – im Jahr 1993 einen Höchststand von über vier Millionen erreichte, im gleichen Jahr aber schon abnahm, um dann bis 2003 auf unter zwei Millionen zu sinken. Außerdem standen Bundesmittel zur Verfügung, um in den gesamten Vereinigten Staaten 7 000 weitere Polizisten einstellen zu können.

»Giuliani ist schamlos«, sagt Bob Liff, ehemaliger Journalist der New Yorker Tageszeitung Daily News und jetzt Lobbyist für die Firma George Arzt Communications. »Ich habe lange Zeit über Giuliani berichtet, weil ich Korrespondent im New Yorker Rathaus war.« Liff lehnt sich in seinem Armlehnstuhl vor und faltet die Hände. »Und was uns New Yorker und unsere Beziehung zu Rudy Giuliani vom Rest des Landes unterschei­det, ist die Tatsache, dass wir wissen, was er bis zum 10. September getan hat.«

Als Beispiel dafür nennt er die Namen von Abner Louima, Amadou Diallo und Patrick Dorismond. Der Haitianer Abner Louima wurde 1997 in einer Gefängniszelle in Brooklyn vergewaltigt und schwer misshandelt. Der 23jährige Amadou Diallo aus Guinea wurde 1999 von vier Polizisten mit 41 Schüssen im Stadtteil Bronx niedergestreckt. Die vier Beamten hielten ihn für einen Vergewaltiger auf der Flucht. Er starb unbewaffnet, die vier Polizisten wurden im Jahr 2000 freigesprochen.

Patrick Dorismond wurde am 16. März 2000 von einem Zivilbeamten in Manhattan erschossen.

Für die Kritiker des ehemaligen Bürgermeisters stehen diese Namen für eine Politik des systematischen Machtmissbrauchs der Polizei, die sich während Giulianis Amtszeit durchsetzte.

Eric Williams arbeitet im New Yorker Rathaus. Von hier berichtet er für die Radiostation WBAI. »Lass mich eine Zigarette anzünden, bevor ich was zu Rudy sagen kann.« Williams nimmt einen kräftigen Zug und tänzelt auf die nächste Stufe der Rathaustreppe. »Giuliani ist kein fieser Mann. Er ist eigentlich ganz liebenswert, wenn man ihn persönlich kennt. Wenn es aber um die Belange der Schwarzen in New York geht, praktiziert Giuliani Apartheid«, erklärt Williams und verweist auf den Film »Giuliani Time«, der sich unter anderem mit der Minderheitenpolitik des ehemaligen Bürgermeisters beschäftigt.

In dem Film, einer Dokumentation von Kevin Keating von 2006, die noch nie im US-Fernsehen gezeigt wurde, geht es um die Kürzungen im Sozialwesen, die Giuliani während seiner ersten Amtszeit veranlasste. Gezeigt werden Sozialhilfeempfänger, die für ihre Unterstützung arbeiten sollen. Die Mehrheit von ihnen sind Latinos oder Schwarze, die Hinterhöfe fegen oder andere sinnentleerte Arbeiten ausüben müssen. Wenn sie auch nur einen halben Tag verpassen, wird die Sozialhilfe gestrichen, erfährt der Zuschauer.

Schnitt. Wir sehen Rudy Giuliani in dem Rundfunkstudio des New Yorker Senders WNBC, er verkündet stolz: »Wir haben die Sozialhilfe drastisch gesenkt.« Ein Hörer wird in die Kabine geschaltet und sagt: »Sie sind der schlimmste Bürgermeister, den New York jemals hatte. Man hat mir meine Essensmarken gestrichen.« Der Hörer spricht undeutlich. Giuliani antwortet mit einem breiten Grinsen: »Sitzt du in einem Loch? Bist du o.K.? Du atmest so komisch. Ich glaube, wir sollten deine Adresse aufnehmen und dir einen Psychologen rausschicken, denn du klingst, als könntest du Hilfe gebrauchen.« Schnitt. Der Hörer heißt John Hynes und sitzt in seinem Apartment in Queens in einem Rollstuhl. Er spricht undeutlich, weil er an der Parkinson-Krankheit leidet.

Der Psychologe Mike Rosetta lebte zur Zeit Giulianis als Bürgermeister an der noblen Upper West Side und arbeitete für den Bildungsausschuss der Stadt New York. »Rudy Giuliani und George W. Bush ähneln sich sehr«, sagt er und schenkt sich einen kolumbianischen Kaffee ein. »Das könnte bei den nächsten Wahlen eine große Rolle spielen. Bush und Giuliani legen einen ungemeinen Narzissmus an den Tag, beide suchen nach einfachen Antworten für komplexe Probleme. Das Leben ist schwarz oder weiß, selten sehen diese Menschen Grautöne. Alles dreht sich um die eigene Person: nur das Beste für Rudy«, erklärt Rosetta.

Im Jahr 2001 schien die politische Karriere des Rudy Giuliani beendet. Er konnte kein drittes Mal zum Bürgermeister gewählt werden, und sein Versuch, für den Senat zu kandidieren, war ein Jahr zuvor gescheitert, als er an Prostatakrebs erkrankt war. Seine Umfragewerte in New York waren auf dem Tiefstand. Bis zum 10. September. Am Tag darauf sollte sich für die USA und für den Politiker Giuliani alles ändern. Am 11. September 2001 erlebte Giuliani eine politische Renaissance, von der er noch heute profitiert, nach dem Motto: Was in New York funktioniert hat, kann auch dem Rest des Landes nicht schaden. Und zudem: »Ich weiß, wie man dem Terror beikommt.«

An dem Tag des Angriffs auf die USA sah man nicht US-Präsident George W. Bush in den Medien. Rudy Giuliani hingegen sprach im Radio und erschien auf sämtlichen Fernsehkanälen der USA – und damit in der ganzen Welt. Er verströmte Sicherheit und väterliche Fürsorge. Die geschockten Bewohner von New York erlebten eine neue Seite ihres Bürgermeisters, den sie nicht gerade als »mitfühlenden« Menschen kannten. »New York wird morgen immer noch hier sein«, versprach er in den Tagen nach dem Terroranschlag in pointierten Floskeln. »Wir werden es wieder aufbauen, und wir werden stärker sein als je zuvor. Ich möchte, dass New York mit gutem Beispiel für den Rest des Landes und den Rest der Welt vorangeht. Terrorismus kann uns nicht stoppen.«

Gerade am 11. September 2001 hätten die Vorwahlen für den Wahlkampf ums Bürgermeisteramt stattfinden sollen. Sie wurden sofort auf den 25. September verlegt. Während dieser Zeit versuchte Giuliani, eine dreimonatige Verlängerung seiner Amtszeit vom 1. Januar 2002 bis zum 1. April 2002 per Dekret zu erwirken. Diese Verlängerung wollte er mit einer dritten Kandidatur um das Bürgermeisteramt verbinden. Er scheiterte. Michael Bloomberg, der derzeitige Bürgermeister von New York, wurde sein Nachfolger.

Giuliani war in der Zwischenzeit vom Lokalpolitiker zum Staatsmann avanciert und wurde sogar von der englischen Königin in den Ritterstand erhoben. Die internationale Presse war begeistert, der Mythos Giuliani verfestigte sich weiter.

Heutzutage zieht Rudy Giuliani durch die Vereinigten Staaten und versucht, sich als »Terrorexperte« zu verkaufen, während er gleichzeitig die Regierung Clinton für den 11.September verantwortlich macht und in Wahlansprachen deutlich vor einer Rückkehr der Clintons ins Weiße Haus warnt. Derweil brummen in New York die Druckmaschinen und enthüllen eine unangenehme Wahrheit über »Amerikas Bürgermeister« nach der anderen. Wenige dieser brisanten Details, die zur Entmythisierung Giulianis beitragen könnten, finden den Weg in die überregionale Presse.

Demnach verhielt sich Giuliani auch gleich nach dem 11.September ausgesprochen divenhaft. Gabe Pressman, ein mittlerweise 83 Jahre alter Journalist, und immer noch regelmäßig auf NBC zu sehen, interviewte seinerzeit Marilyn Monroe, Harry Truman und Fidel Castro, berichtete exklusiv von den Morden an Malcolm X und Martin Luther King und war ein genauer und keinesfalls unkritischer journalistischer Beobachter Rudy Giulianis. »Er hatte den ganzen Bereich unterhalb der Chambers Street abriegeln lassen«, erinnert sich Pressman. »Das Suchen im Geröll nach Überlebenden wurde von Giulianis Angestellten gefilmt, die das auch sorgfältig erledigten.

Wayne Barrett ist eine New Yorker Zeitungslegende. Seit 1979 macht er dem Titel »investigativer Journalist« als Chefredakteur der Village Voice alle Ehre. Zwei Bücher widmete er Rudolph Giuliani, dessen Konterfei regelmäßig auf der Titelseite der Village Voice gedruckt wird. Als Karikatur, versteht sich.

Barrett erklärt: »Wenn der amerikanischen Öffentlichkeit jetzt erzählt wird, hey, Rudy ist ein Mythos, er ist gar kein standhafter Politiker, der uns in eine sichere Zukunft führen kann, dann wäre das ein Schlag ins Gesicht der Nation. Alles in allem erledigen die amerikanischen Fernsehjournalisten einen wirklich dürftigen Job an Aufklärungsarbeit, und in den Zeitungen habe ich auf überregionaler Ebene bislang nur in der Washington Post und der New York Times was Brauchbares gelesen.«

Bleibt festzustellen, dass sich Giuliani während seiner bisherigen Politkampagne gerne zu dem Kandidaten stilisiert, der die USA in eine terrorfreie Zukunft führen. »Das Einzige, was uns gegen den Terror schützen kann«, sagte er der 9/11 - Kommission, »ist die Fähigkeit, über einen Anschlag im Voraus etwas herauszufinden.« Das Ganze nennt man dann einen voll funktionsfähigen Geheimdienst, und das FBI spielte in den Tagen vor dem 11.September eine Schlüsselrolle in der Terrorvorbeugung. In seiner Aussage vor der 9/11 - Kommission betonte Giuliani, er habe »Mitleid mit dem Präsidenten, denn er hat es schwer gehabt, angesichts der großen Informationsflut, die wichtigen Details herauszufiltern«. Dabei bezieht er sich auf ein Memo mit dem Titel: »Bin Laden fest entschlossen, die USA anzugreifen«, das Bush bereits im August 2001 erhalten hatte. Gemäß dem Abschlussbericht der Kommission war es das 36. Memo in Verbindung mit al-Qaida und Ussama Bin Laden, das Bush erhalten hatte, aber das erste, das so explizit einen Terroranschlag ankündigte.

»Die Medien in diesem Land haben zur Mythisierung Giulianis beigetragen«, sagt Barrett, »jetzt ist es schwierig, plötzlich den Kurs zu ändern.«

Um den Kampf für eine kritische Berichterstattung über die US-amerikanische Politik kümmert sich Danny Schechter schon sein Leben lang. Mit Büchern wie »Der Tod der Medien und der Kampf, die Demokratie zu erhalten« und seiner unabhängigen New Yorker Filmproduktionsfirma Globalvision bemüht er sich, »der allgemeinen Verdummung entgegenzusteuern«, wie er es nennt.

»Filme wie ›Giuliani Time‹ werden einem großen Publikum nicht zugänglich gemacht«, sagt er. »Das hat Methode.« Und die unabhängigen Medien, wie der öffentlich-rechtliche Sender PBS? »Nicht nur mangelt es in den USA an einem starken unabhängigen Mediensektor, nein, mittlerweile hieße Giuliani anzugreifen, Amerika anzugreifen.«