Zahltag!

Wie in der gegenwärtigen Wirtschafts­berichterstattung die Krise widerscheint. Von der Initiative Sozialistisches Forum

»Markt und Wettbewerb sind (…) die effizienteste Form der Caritas.«Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23. Juni

»Denn das Wesen eines Dominospiels besteht darin, dass jeder Stein umfallen kann, und sei er auch noch so weit vom ersten Stein entfernt.«Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21. August

»Iss und trink, solang dir’s schmeckt, schon zweimal ist uns’s Geld verreckt.«Deutsches Sprichwort, 1949

Jeder als Einzelner ahnt längst, was die Gesellschaft keineswegs wissen möchte: dass die Propaganda, man lebe in einer zwar durchaus und allerdings sehr bedenklichen, aber doch der best­mög­lichen aller Welten – nur etwas Öko-Strom und Fairtrade mehr dürften es schon sein, dazu Bio-Limonade, Tierschutz und Amnesty interna­tio­nal –, auf Treibsand gebaut hat. Dass die Kapitalisierung der Gesellschaft längst eine Intensität er­reicht hat, die den Fortschritt nur als Flucht vor dem totalen Zusammenbruch jedweder Reproduktion, d.h. als Wechsel auf die Katastrophe erlaubt, ahnt jeder, und sichtbar wird es genau durch die Energie, die die Öffentlichkeit ins Verdrängen, Verleugnen und Abspalten investiert.

Der erste Run auf eine europäische Bank seit der großen Krise von 1929, auf die Northern Rock Bank in England im September, als sich lange Menschenschlangen vor der Bank bildeten und die Polizei eingreifen musste, um die Massen zu beruhigen, offenbart, dass im Keller der Zukunftsgewissheit die nackte Angst lauert, jederzeit bereit, in Panik umzuschlagen. Alles ist verkehrt, sogar, so die Finanzpresse, »die Maschinen laufen plötzlich Amok« (Handelsblatt), weil sich der »Schleier des Marktes« (FAZ) hebt, die »Finanzmärkte in Aufruhr« geraten und ein »Orkan der Angst« (Han­dels­blatt) losbricht. Dahin führt diese Angst, schlimmer noch: »die überall grassierende Angst vor der Angst« (Handelsblatt), dass die Leute aus Furcht vor dem Tod am liebsten Selbstmord begehen und darin das gesellschaftliche Schicksal vorwegnehmen möchten, das ihre ureigene Produktionsweise über sie vollstreckt hat.

Die Gesellschaft hat, in ihrer Verkehrung, eine, so Marx, »Religion des Alltagslebens« hervor­gebracht, die in der »Personifizierung der Sachen« einerseits, der »Versachlichung der Produktionsverhältnisse« andrerseits besteht, d.h. im allseits durchgeführten Fetischismus. Diese Alltagsreligion schwört auf Geld und Kapital als auf das kollektive Unbewusste der Gesellschaft, ihren Triebgrund, und sie lehrt die »Demut vor dem Markt«, wie die FAZ es kürzlich in einer Rezension eines Buches von Wieland Staud formulierte. Einerseits sind das Geldverdienen und Geldgebrauchen die bloße Selbstverständlichkeit und zweite Natur, andrerseits versteht man nicht, wie es das Geld macht, sinnlich verschiedene Ge­brauchs­werte zu vergleichen, verrechenbar zu machen und in einer Einheit auszudrücken, die die Gesellschaft zu einer identischen macht.

Der Fetisch des Geldes – erst recht seine Bewegungsform, der Kapitalfetisch – stiftet eine Heimeligkeit, wie sie aus der Gewohnheit reiner Funktionslust entsteht (»Wer zahlt, schafft an«), eine Vertrautheit, die verspricht, die Einsamkeit, wie sie aus der allgemeinen Konkurrenz entsteht, zu heilen. Dies sitzt dem Grauen auf wie der Korken der Sektflasche. Die Sprache des Journalismus, in der dies Unheil sich ausdrückt, ist danach. Sie changiert zwischen Naturbeschwörung und Voluntarismus: Da wütet »der Virus der Hypothekengrippe«, eine »veritable Sturm flut« (beides FAZ) bricht herein, es herrscht »Dürre am Kreditmarkt« (Finicial Times Deutschland), und überhaupt: »die Seuche« (FAZ) wütet – aber zugleich soll »Marktpsychologie« ausschlaggebend sein und es bedürfe, gern auch mittels »Tiefenpsychologie«, der Aufklärung über das »gefährliche Herdenverhalten unter Investoren« (Die Welt), die wohl nicht ganz dem »Leitbild des mündigen, souveränen Konsumenten« (FAZ) genügen können, sich vielmehr wie die Lemminge aufführen.

Der Zwangscharakter der ökonomischen Objek­ti­vität schlägt um in allerlei Pseudowissenschaften wie die »Neuroökonomie«, die dem »Geheimnis des Menschen«, insbesondere dem seiner ökonomischen Entscheidungen, mittels der »funktionellen Magnetfeldresonanztomographie« auf die Schliche kommen will, denn: »Wir wissen, dass Vertrauen einen positiven Einfluss auf die Entwicklung einer Volkswirtschaft haben kann. Trotzdem ist nur wenig über die Entstehung von Vertrauen bekannt.« (FAZ) Aber vielleicht hilft ja auch eine neue »Anlagephilosophie« und eine »ganzheitliche Kundenberatung« (FAZ). Die Volkswirtschaftslehre ist der Spaß, den sich die Ökonomen auf Kosten des Publikums machen, und jeder dieser Apostel weiß, dass sie über die Wirtschaft, die das Schicksal ist, noch weniger wissen als die andern – darüber lacht das Handelsblatt: »Ein Schimpanse wirft mit verbundenen Augen Dart-Pfeile auf den Kursteil einer Zeitung. Die Aktien und Anleihen, die er trifft, entwickeln sich anschließend besser als alles, was von Experten in akribischer Analyse ausgewählt wurde.« Ökonomie ist die Äffung des Menschen durch sich selbst.

Die notorische Unfähigkeit, ein synthetisches Urteil über die grundlegenden Kategorien der Vergesellschaftung zu fällen, das permanente Schwanken des Denkens in Antinomien, d.h. in Behauptungen, die sich gegenseitig ausschließen und einander doch implizieren und voraussetzen, ist die Weise, in der die totale Verblendung, deren Name Ideologie ist, die verkehrte Gesellschaft reproduzieren hilft. Auf der einen Seite herrscht der vollendete Rationalismus, und die Bewegungen des Kapitals werden beobachtet und berechnet wie kaum das Wetter; hier geht es um »eine effizientere Allokation des knappen Gutes Kapital« vermittels »riesiger Datenbanken, leistungsstarker Computer und hochgezüchteter Risikomanagementsysteme« (FAZ). Auf der anderen Seite muss man, sagt der Finanzminister, im »Casino-Kapitalismus« leben, worin »die Menschen sich als kleine Rädchen in der Welt anonymer Spekulanten fühlen« (Stern).

Einerseits und andrerseits; König Kunde, arme Sau: Darüber müsste verrückt werden oder schizophren, wer noch irgend auf die Wahrheitsfähigkeit seines Denkens vertraute. Aber weder die wissenschaftlichen Ökonomen, die, so Marx, »Schule der ökonomischen Wetterkünstler«, noch die Praktiker nehmen daran Anstoß. Sie vertrauen darauf, dass die gesellschaftliche Synthesis schon ohne sie fix und fertig ist, dass sie in der Gestalt des Geldes vorliegt und sich als Kapital quasi automatisch bewegt, darauf, dass der Zusammenhang von Ware und Geld so gottgewollt wie naturgegeben ist. Das Denken haben sie zur bloßen Meinung über’s Gegebene verhunzt.

Aber der Zusammenhang erst von Ware und Geld, dann von Geld und Kapital ist selbst das Mysterium, das im Zentrum der Gesellschaft west. Wie es sein kann, dass die gesellschaftliche Vermittlung sich verkehrt und zum Ding wird, wie es möglich ist, dass im Geld das Allgemeine der Gesellschaft unmittelbar wird, handgreiflich und konkret, dass die Gesellschaft sich in sich selbst noch einmal präsentiert und im Geld als der »Gesellschaft in der Hosentasche« (Marx) die allgemeine Konvertibilität der Individuen zu Subjekten garantiert, das ist den Ökonomen und ihrer Öffentlichkeit das Rätsel schlechthin. Solange »anything goes«, juckt das niemanden, und »ein vollkommener Widerspruch hat durchaus nichts Geheimnisvolles für sie« (Marx), denn ihr analytischer Verstand ist ganz frei von dialektischer Vernunft.

Die Krise demonstriert sodann, dass das Kaufen und Verkaufen keineswegs eine einzige flüssige Bewegung darstellt, sondern die zentrale Instanz der Vermittlung. Solange es gut geht, löst sich die harte Zahlung auf in eine unendliche Kette von Krediten; sowie es schlecht geht, d.h. sowie sich zeigt, dass das Kaufen und Verkaufen keineswegs die pragmatische Methode darstellt, »Güter« und »Bedürfnisse« zu vermitteln, dass das Geld keinesfalls der technische Schlüssel ist zur »Allokation«, sondern vielmehr, als Erscheinungsform des Kapitals, sein höchsteigenes Leben führt, tritt unvermittelt die Panik an die Stelle der Gesundbeterei, und alle Welt fragt sich vermittels der Finanzpresse, wo zwischen »Wert« und »Bewertung«, zwischen »Preis« und »Fundamentalwert« überhaupt noch etwas wie »der wahre Wert« zu finden sei, der im Jenseits eines Geldausdrucks zu bestehen vermöchte. Und »dieses plötzliche Umschlagen aus dem Kreditsystem in das Monetarsystem fügt den theoretischen Schrecken zur praktischen Panik: und die Zirkulationsagenten schaudern vor dem undurchdringlichen Geheimnis ihrer eignen Verhältnisse« (Marx).

In der Panik, in der hysterischen Antizipation des Zusammenbruchs der verkehrten Gesellschaft, spricht sich begriffslos aus, dass das Kapital, nur einmal ganz logisch betrachtet, eine unmögliche Produktionsweise ist. Dann hilft es weniger als nichts, wenn der Vorsitzende der Ludwig-Erhard-Stiftung erklärt, das Kapital sei nur ein »Produktionsfaktor«, denn nun, in der Krise, zeigt sich, dass der »Faktor« kein Faktotum ist und stets zu Diensten (»Denn ohne Kapital bleibt die fleißigste Arbeit arm«). Obwohl das Kapital unmöglich ist – denn wie sollte das Ganze im Ganzen präsent sein? –, ist es gerade deshalb wirklich geworden, eine unmittelbare Allgemeinheit, die so überwältigend wie niederschmetternd funktioniert: der allgemeine Einschluss vollzieht sich über den totalen Ausschluss eines Jeden durch Jeden. Darauf basiert das Kapitalverhältnis, dass jedes Individuum nur in der Form des juristischen Subjekts konstituiert und nur darin als gesellschaftlich gültig gesetzt wird, dass die Selbsterhaltung der Körper in der lebendigen Arbeitskraft unmittelbar mit der Akkumulation des Kapitals identifiziert wird. In der Form des Subjekts gesetzt, hat das Individuum die Gattung in sich selbst zu negieren. So ist jedes Subjekt ein Feind der Menschheit als des Integrals ihrer Individuen; es reduziert die Gattung auf Anweisung des deutschen Sprichworts »Des einen Brot, des andern Tod« auf die Summe ihrer Exemplare.

Vor allem in Deutschland. Denn die Vorahnung des Zusammenbruchs, des radikalen Auseinander­tretens von Selbsterhaltung und Akkumulation, spricht sich aus als Verdammung der Spekulation, der man schon anmerken kann, wer tatsächlich gemeint ist. Sind Spekulation, Börse und Couponschneiderei, Derivatenhandel, »Heuschrecken« und Private Equity in Wahrheit nur Rationalisierungen des Kapitalkreislaufs selbst, Beschleunigungen der Akkumulation und Versuche, dem Kapital das Leben durch eine ausgefuchste Kreditwirtschaft leichter zu machen, so glauben nun die Landsleute, das Geld habe nicht nur mit der Produktion gar nichts zu tun, sondern sei gar ein organisiertes Attentat, eine Verschwörung gegen das Leben. Die Boulevardpresse agitiert: »Geld zerstört die Welt«, unbekannte Kräfte hätten »eine gigantische Geldbombe« gelegt, so der Stern, außerdem sei die »Finanzkrise made in USA«, meint die Welt. »Wie sicher ist unser Geld?« fragt der Stern, wenn es, ängstigt sich die Süddeutsche, in die Hände »gieriger Finanzmanager« gerät; und was mag geschehen, fragt die Frankfurter Allgemeine, wenn statt deutscher »Unternehmerpersönlichkeiten« nun »smarte Finanzjongleure« das ökonomische Schicksal bestimmen?

Zuvor, in der Konjunktur, war das bare Geld eine verschwindende, flüchtige Angelegenheit, und jede Ware schien, mit einem Preisschild beklebt, sich schon Geld genug zu sein. Jetzt, in der Krise, wo das Kaufen und Verkaufen an der Barrikade der baren Zahlung zu scheitern droht, verfällt die deutsche Ideologie in ihr liebstes und gefährlichstes Schema, auf die Trennung von Produktion und Zirkulation, auf den imaginären Unterschied einer »Güterherstellung« von nichts als Gebrauchswerten einerseits, des Unwesens von Zins und Zinseszins andrerseits. »Die Krise des großen Geldes bedroht die reale Wirtschaft«, heult der Boulevard (Stern); es sei ganz furchtbar, »wie stark die Finanzkrise auf die reale Wirtschaft durchschlägt«, notiert die gehobene Bourgeois-Presse. (FAZ) Dieser Unterschied, seinem Gehalt nach nichts als das objektiv notwendige falsche Bewusstsein der bürgerlichen Gesellschaft von sich selbst, gibt schon die Anweisung auf die Trennlinie, die die deutsche Ideologie tatsächlich zu ziehen beliebt, die nämlich zwischen dem »schaffenden« und dem »raffenden« Kapital, zwischen der gesunden Ausbeutung im Dienste von Volk und Staat und »Heuschrecken« des »amerikanischen Alptraums«.

Weder die outrierte Sprache derjenigen, die das Kapital verwalten dürfen – so ist der Aufsichtsratsvorsitzende der Deutschen Bank der Meinung, »›Wirtschaft‹ bezeichnet einen wertneutralen Kultursachbereich«, was dann die Meldung »Putzfrauen sollen billiger werden« (Financial Times Deutschland) erträglich werden lässt –, noch die feinsinnigen Disputationen ihrer Professoren täuschen über die einfache Wahrheit hinweg, dass man, wie »Anlagechef Bill Miller von der Fondgesellschaft Legg Mason« der FAZ aufsagt, »nicht recht behalten kann, wenn man kein Geld hat«. Wahrheit und Interesse sind zweierlei in der Ökonomie des Kapitals. Und die Abspaltung der »realen« von der »Finanzwirtschaft« macht deutlich, welche Sorte »Krisenlösung« man anzuwenden gedenkt, wenn sich die gegenwärtige Situation nicht als »Sommergewitter« (Die Welt) erweisen sollte, sondern als »Beben«, »Strudel« und »Flächenbrand« (Handelsblatt).

Wie stets wollen die Linken um die Rolle der Avantgarde auf der schiefen Bahn konkurrieren, die hiermit betreten ist. Der Wirtschaftswissenschaftler Rudolf Hickel, bei der Partei »Die Linke« wohlgelitten, attestiert dem »Spekulationskapitalismus« nichts als »Raffgier«, »Inkompetenz« und »Unverantwortlichkeit«, eine einzige Schweinerei und »Kreditorgie« sei das, der wahre Grund jedoch der Misere liege in der »durch Spekulation angetriebenen Abkoppelung der Finanzmärkte von der Produktionswirtschaft« und in der »unzureichenden Verwendung der Profite zur Produktion« (Blätter für deutsche und internationale Politik).

Drum Linkspartei? Aber die Produktion ist keinesfalls die von Gebrauchswerten, sondern die von bepreisten Waren, die ihren Wert zu realisieren haben, und dies nicht einfach nur so zu Profiten, sondern zu einer gewissen Profitrate. Ein Kapital, das eine Profitrate von zehn Prozent macht, wird relativ von einem anderen Kapital entwertet, das 15 Prozent heckt. Der Wert, von dem keiner weiß, ob er objektiv ist oder subjektiv, ist jedenfalls relativ. Daher war es auch keine Spekulation, sondern überaus clever, als es der irischen Filiale der Sachsen LB zuerst gelang, ein Kapital von 20,5 Milliarden zu verwalten, d.h. 888 Prozent ihres Eigenkapitals. Wenn die Wirtschaft, wie die Professoren sagen, überwiegend Psychologie ist, dann kann das Geld nicht mehr sein als eine schöne Einbildung; wenn dann die harte Zahlung gefragt ist, wenn sich herausstellt, dass nur der Staat als Kapitalist letzter Instanz Geld in Umlauf bringen kann, weil er über die Goldreserve verfügt, dann ruft man nach dem starken Staat, nach dem Souverän.

»Was die Auffassung des Geldes in seiner vollen Bestimmtheit als Geld besonders schwierig macht«, sagt Karl Marx, »– Schwierigkeiten, denen die politische Ökonomie dadurch zu entrinnen sucht, dass sie eine seiner Bestimmungen über die andre vergisst, und wenn ihr eine entgegengehalten wird, an die andere appelliert – ist, dass hier ein Gesellschaftsverhältnis, eine bestimmte Beziehung der Individuen aufeinander, als ein Metall, eine rein körperliche Sache außer ihnen erscheint.« Daraus erwächst »diese verzauberte und verkehrte Welt«, deren wirklicher Zahltag die Revolution sein wird. Denn die bestimmte Beziehung der Individuen aufeinander als eine Beziehung von Herrschenden auf Beherrschte, Ausbeutern auf Ausgebeutete, die Qualität der Gesellschaft als vollendet negative ist es, die in Geld und Kapital sich verkörpert.