Der Lokführer-Tsunami

Es war bloß ein Streik. Doch die Medien sprachen vom befristeten Ausstand der Lokführer, als sei das Böse schlechthin oder eine Naturkatastrophe über die Republik gekommen. von jan langehein

Manchmal verwandelt sich eine seriöse Nachricht mit der Änderung eines einzigen Wortes in einen Manipulationsversuch. Im Falle des Lokführerstreiks der GDL vergangene Woche geschah dies, indem die Redak­tionen das neutrale »ankündigen« ungedruckt ließen und stattdessen das tendenziöse »drohen« wählten. Tatsächlich hat die GDL der Bahn mit einem Streik gedroht; und einige Fabriken waren mangels Zulieferung von Kurzarbeit betroffen. Aber schon für die Bahnpassagiere war der Streik eher ein Ärgernis als eine Bedrohung, und den ca. 75 Mil­lionen Bewohnern dieses Landes, die weder täglich Bahn fahren müssen noch größere Industriebeteiligungen besitzen, drohte von den Lokführern überhaupt nichts. Und trotzdem »drohte« die GDL scheinbar allen »mit zweiter Streikfront«, »mit beispielloser Streikwelle«, »mit Eskalation« – so jedenfalls verkündeten es die Zeitungen, so schallte es aus den Radios, und so flimmerte es über die Bildschirme.

Den »größten Streik in der Geschichte der Deutschen Bahn« meldeten die Agenturen, nachdem der Vorsitzende der GDL, Manfred Schell, einen Ausstand von 62 Stunden am Stück angekündigt hatte. In Frankreich oder Italien, wo der Bahnverkehr alle paar Jahre für Wochen lahmgelegt wird, wäre das wohl als ausgedehnter Warnstreik durchgegangen, in Deutschland aber war es Anlass zur Panik. »Wenn die nicht damit aufhören, ist alles kaputt. Dann war alles umsonst!« kommentierte ein Leser die Streikberichte von Focus Online, ohne freilich auszuführen, was denn genau umsonst wäre. Die Bahn AG forderte in ganzseitigen Zeitungsanzeigen: »Stoppen Sie diesen Wahnsinn, Herr Schell« und: »Hören Sie endlich auf, ein ganzes Land zu bestreiken!«

Dem pflichtete, wiederum bei Focus Online, ein Leser bei, der während des Streiks offenbar Gefangener der GDL war: »Herr Schell und die GDL sollten sich schämen, große Teile der Bevölkerung als Geisel für ihre abstrusen Gehaltsforderungen zu nehmen.« Zur Lösung des Problems empfahl er, alle nicht verbeamteten Lokführer sofort zu ent­lassen, neue Beamte einzustellen und die Schlüsselindustrien zu verstaatlichen – damit da nicht dauernd gestreikt werde, versteht sich. Selbst der SPD-Vorsitzende Kurt Beck, der derzeit versucht, so zu tun, als sei er ein Linker, sah besonders wegen der Forderung nach einem eigenen Tarifvertrag eine große Gefahr herannahen. »Wenn es so käme, dass in jedem Betrieb eine Reihe von verschiedenen Tarifverträgen gelten, dann führte das zu großer Unsicherheit und Instabilität«, sagte er der Bild am Sonntag.

Kurz: Kaum fielen die Züge aus, legte sich Düsternis über das Land. Ein Autofahrer brachte die Stimmung auf den Punkt, als er am Hamburger Hauptbahnhof seine gestrandeten Kollegen abholte, um sie mit in die Firma zu nehmen: »In solchen Zeiten muss man eng zusammenrücken!« Es war, als stünde die Republik am Abgrund, zumindest aber die Konjunktur vor dem Zusammenbruch, weil die GDL für weniger als drei Tage Fern-, Nah- und Güterverkehr zugleich bestreikte. Die Medien berichteten in jenem Betroffenheitsjargon über das Geschehen, der sonst nur bei Naturkatastrophen oder bei größeren Terroranschlägen bemüht wird.

Der »Bahn-Liveticker« auf Spiegel Online informierte im Minutentakt über die Lage an der Front: »10.04 Uhr: Lübecker Hafen mit ›deutlichen Problemen‹. (Statt sechs Zügen sei bisher nur einer angekommen.)« »10.33 Uhr: Bremer Bahnhofs­händ­ler melden Einbußen. (Auch im kleinen Bahn­hofs-Supermarkt wird weniger verdient.)«; »12.08 Uhr: Audi sagt Spätschicht in Brüssel ab. (Die Versorgungslage ist nach wie vor angespannt.)« Die Moral von der Geschicht’ streute die Redaktion eher zwanglos zwischen die Ereignisse: »12.24 Uhr: Koalitionspolitiker warnen Lokführer. (Rainer Wend und Laurenz Meyer warnen die Lokführer vor einem Kampf für Gruppeninteressen.)«

Da könnten sie doch eigentlich gleich den Papst vor einem Kampf für den Katholizismus warnen, sollte man meinen, denn welchen Zweck hätte denn eine Gewerkschaft, kämpfte sie nicht für die Interessen der von ihr vertretenen Gruppe? Aber diese und andere Reaktionen auf den Streik zeigen, dass die Frage nicht so rhetorisch ist, wie sie auf den ersten Blick scheinen mag: In Deutschland besteht die Rolle der Gewerkschaften schon lange nicht mehr allein darin, die Interessen ihrer Mitglieder durchzusetzen. Korporatismus und Sozialpartnerschaft machen es vielmehr zu ihrer Aufgabe, diese Interessen mit den Verwertungsinteressen des Kapitals in Einklang zu bringen. Das bedeutet für die Lohnabhängigen, ihre persönlichen Ziele im Zweifelsfall denen »des Landes« unterzuordnen, und die Aufregung über den Lokführerstreik erklärt sich auch dadurch, dass die GDL sich dieser Unterordnung trotz ständiger Aufforderung verweigert.

Hätte der Begriff nicht diesen sozialrebellischen Beiklang, könnte man sagen, sie betreibe Klassenkampf – aber um Rebellion geht es den Beamten und Angestellten der GDL nun wirklich nicht. Trotzdem: Die GDL leistet keine Sonderschichten nach dem Streik, um die entstandenen Verluste wieder auszugleichen; sie setzt die Bahn unter Druck, um ihre Forderungen durchzusetzen. So ein Vorgehen, schrieb Walter Benjamin, habe durchaus gewaltsamen Charakter, weil es sich des Mittels der Erpressung bediene. Das allerdings stehe im Einklang mit dem (Streik-) Recht: »Die organisierte Arbeiterschaft ist neben den Staaten heute wohl das einzige Rechtssubjekt, dem ein Recht auf Gewalt zusteht.«

Die Selbstverständlichkeit, mit der die GDL dieses Recht wahrnimmt, verleitet die Interessenwahrer der Gegenseite dazu, es in Frage zu stellen. Der Chefredakteur des Wirtschaftsmagazins Capital, Klaus Schweinsberg, forderte in der ARD, das Streikrecht müsse um eine Verhältnismäßigkeitsklausel ergänzt werden – in Zukunft dürfe keine kleine Minderheit mehr das ganze Land unter Druck setzen. Für die GDL und andere kleine Gewerkschaften liefe eine solche Klausel de facto auf ein Streikverbot hinaus. Einen Schritt in diese Richtung hatte bereits das Arbeitsgericht Chemnitz mit seinem Urteil unternommen, die GDL dürfe nur den Personennahverkehr bestreiken. Dieser Versuch scheiterte aber bekanntlich vor dem Bundesverfassungsgericht. Auch der Versuch des Bahnvorstands, die GDL auf Schadenersatz zu verklagen, dürfte kaum Aussicht auf Erfolg haben – Freunde macht sich die GDL derzeit nicht, juristisch scheint sie aber derzeit auf der sicheren Seite zu sein.

Bei all der Aufregung um den Streik der GDL ist es fast schon verwunderlich, dass die Mehrheit der angeblichen »Geiseln« nach wie vor Verständnis äußert. Natürlich sind manche Leute verärgert, wenn sie nicht zum Ziel kommen, aber die Wut an den Bahnhöfen hält sich im Vergleich zu der in den Medien doch eher in Grenzen. Es gibt offenbar sogar noch Leute, die die Situation mit Humor nehmen wie z.B. ein glückloser Pendler: »Natürlich kann ich verstehen, wenn die für ihr Geld kämpfen wollen. Aber doch nicht, wenn ich Bahn fahren will!«