Ganz und gar nicht ums Ganze

Die den Verwertungsimperativen des Kapitals und den Herrschaftsimperativen des Staates gehorchende bürgerliche Gesellschaft bringt immer wieder Antisemitismus hervor. Die Kritik der politischen Ökonomie muss die Kritik des Antisemitismus und daher auch die Solidarität mit Israel zur Grundlage haben. von stephan grigat

Kommunistische Kritik kreidet der bürgerlichen Gesellschaft nicht an, dass sie Freiheitsrechte hervorgebracht hat, sondern weist darauf hin, dass eine Gesellschaft, die solche Rechte notwendig hat, eine gewalttätige Gesellschaft ist. Diese Kritik richtet sich nicht gegen das Glücksversprechen der Bürger, sondern versucht, seinen ideologischen Gehalt aufzuzeigen und zu verdeutlichen, dass dieses Versprechen in der bürgerlichen Gesellschaft kaum eingelöst werden kann. Materialistische Kritik muss den bürgerlichen Individualismus ebenso in seiner Beschränktheit kritisieren wie ihn gegen die regressiven Angriffe des barbarischen Ressentiments verteidigen, anstatt, wie im Traditionsmarxismus üblich, gegen den »Fetisch des Individualismus« zu agitieren. Kommunismus bedeutet nicht Kollektivismus und Gemeinschaftssinn, sondern die verwirklichte Freiheit des Individuums, das sich über seine gesellschaftliche Konstitution bewusst ist.

Gerne würde man hoffen, dass sich die Mehrzahl der zum Kongress »No way out« Geladenen zumindest auf solch ein Minimalprogramm der Emanzipation verständigen könnte. Doch solche Hoffnungen würden enttäuscht. Angesichts der Einebnung der Unterschiede zwischen Aufklärung und ihrer Negation, zwischen Zivilisation und aus ihr zwar entsprungener, aber nicht mit ihr identischer Barbarei, wie sie von der fundamentalen Wertkritik ausgerechnet seit 9/11 betrieben wird, ist solch eine Verständigung kaum zu erwarten. Und sie wird durch den Auftritt eines postoperaistischen Wiener Theoretiker-Trios, das über den Nationalsozialismus entweder gar nicht oder in der Manier eines Achtziger-Jahre-Autonomen-Stammtischs daherredet, nicht wahrscheinlicher.

Aber selbst wenn man sich auf solche Basics verständigen könnte – das allein würde die Sache nicht viel besser machen. Denn die Situation, in der sich eine materialistische Kritik an Staat und Kapital heute befindet, ist derart beschaffen, dass eine Art kategorischer Imperativ für diese Kritik postuliert werden muss, an dem der Kongress in seiner Gesamtheit scheitern wird. Clemens Nachtmann hat ihn einmal treffend auf den Punkt gebracht: »Eine jede Staats­kritik wird daran zu messen sein, ob sie mit dem Staat Israel, jener prekären Nothilfemaßnahme gegen die antisemitische Raserei, sich bedingungslos solidarisch erklärt, was die Solidarität mit dessen bewaffneter Selbstverteidigung selbstverständlich einschließt. Und jede Kritik am Kapital ist daran zu messen, ob sie, als ihr theoretisches Zentrum, dessen negative Selbstaufhebung in manifester Barbarei als eine wiederholbare Konstellation auf den Begriff zu bringen vermag und zum Angelpunkt der Agitation macht.«

Wesentlicher Propagandist solch einer negativen Selbstaufhebung, die stets auch bestrebt ist, den zivilisatorischen Überschuss bürgerlicher Gesellschaften zu kassieren, ist heute der jihadistische Islam. Es kann von einer Globalisierung des Antisemitismus gesprochen werden, was sich auch in den gesellschaftskritischen Diskussionen über den Antisemitismus niedergeschlagen hat. Während sich diese Diskussionen in den neun­ziger Jahren noch an den historischen und aktuellen Gegebenheiten in Deutschland und Österreich entzündeten, sieht sich die materialistische Kritik heute mit einem sich ubiquitär artikulierenden Antisemitismus konfrontiert. Spätestens seit dem Beginn der zweiten Intifada sind diese Diskussionen unmittelbar verknüpft mit der Einschätzung des Staates der Shoah-Überlebenden.

Kritik der politischen Ökonomie ist parteiisch. Die Parteilichkeit für Israel ist nichts, was sich zu dieser Kritik zufällig hinzugesellt, sondern sie ist die zwingende Konsequenz aus dieser Kritik. Die den Verwertungsimperativen des Kapitals und den Herrschaftsimperativen des Staates gehorchende Gesellschaft bringt den Antisemitismus als wahnhaften Versuch der Konkretisierung des Abstrakten immer wieder hervor. So wie Ökonomie nur als Einheit von Ökonomie und Staat zu begreifen ist, wäre auch der Fetisch nur als Einheit von Fetisch und wahnhafter Konkretisierung der Abstraktion zu verstehen. Genau in diesem Sinne ist der Antisemitismus eine Basisideologie der bürgerlichen Gesellschaft. Der israelische Staat ist die Reaktion auf diesen Antisemitismus – die Solidarität mit diesem Staat schon daher für jede Kritik des kapitalbedingten Verhängnisses zwingend.

Es ist ebenso simpel wie vorhersehbar, dass auf dem Kongress, bei dem es doch ums Ganze gehen soll, genau das kein Thema sein wird. Man hat sich einen jeden und eine jede eingeladen, der oder die schon mal irgendwie den dogmatischen Marxismus-Leninismus kritisiert hat, aber auf gar keinen Fall im Verdacht steht, irgend­etwas mit einer materialistischen Ideologiekritik in der Tradition der Kritischen Theorie, also mit antideutscher Kritik, zu schaffen zu haben.

So drängt sich auch hinsichtlich der mitveranstaltenden Gruppe TOP jener Befund auf, den sie anderen Linken ausstellt: »In Teilen der Linken hat ein Rückfall hinter die Ergebnisse bereits geführter theoretischer Auseinandersetzungen stattgefunden.« (Jungle World 44/07) Aber wie sollte das auch anders sein, wenn man zwei Theorierichtungen gegeneinander antreten lässt, die sich in ihrem Ressentiment gegen die Kritische Theorie treffen und von denen die eine ohnehin nie vom Klassenkampf lassen wollte, während in der anderen die Absage an Klassenkampf und Arbeitsfetischismus nur mit der im Begriff des Kapitals angelegten Integriertheit der Arbeiterklasse in das Kapitalverhältnis einerseits und mit dem prognostizierten Ende der Arbeitsgesellschaft andererseits begründet wird.

Der Nationalsozialismus spielt in diesem Zusammenhang auch in der fundamentalen Wertkritik der Marke »Krisis« und »Exit« keine Rolle. Die Aufhebung der Klassengesellschaft in der Volksgemeinschaft und die postnazistische »Pseudomorphose der Klassengesellschaft an die klassenlose« (Adorno) hat für die fundamentale Wertkritik keine konstitutive Bedeutung. In der militanten Ideologiekritik hingegen findet sich in eben dieser negativen Aufhebung der Klassen die vorrangige Begründung dafür, warum Emanzipation nicht mehr in Form des Klassenkampfes stattfinden kann. Da der für den Traditionsmarxis­mus konstitutive Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit kein außerhalb jeglicher Geschichtlichkeit existierendes Verhältnis ist, kann er auch nicht unberührt bleiben von der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft, die keine propagandistische Verlautbarung, sondern Realität war. Nur in Reflexion darauf würde auch die von Felix Baum geforderte Diskussion über aktuelle Proletarisierungsprozesse (45/07) einen Sinn ergeben.

Das proletarische Interesse hat sich in Deutschland und Österreich im Nationalsozialismus mit dem Staat verbündet und an das Vernichtungswerk gemacht. Joachim Bruhn hat verdeutlicht, was das für die Emanzipation bedeutet: »Nach der Wannsee-Konferenz ist jede Rede vom Klassen­kampf (…) Beschönigung und Verdrängung der Geschichte. (…) Denn wenn es in der Geschichte des Kapitals jemals ein Kairos der Revolution gegeben hat, dann war es genau der Tag der Wannsee-Konferenz. (…) Wenn die Revolution jetzt noch stattfinden würde, wäre das zwar (…) sehr vernünftig, aber nur, wenn auch: immerhin, nachgetragene Rache.«

Nach der Blamage beim Praxisspektakel von Heiligendamm, wo das »Ums-Ganze«-Bündnis nicht etwa gegen, sondern mit den Staatsfetischisten und Berufspalästinensern demonstriert hat und im Nachhinein vermutlich zumindest von der Ahnung beschlichen wurde, das so etwas dadurch, dass man vom Lautsprecherwagen ein paar Sentenzen des geschätzten Genossen Michael Heinrich (46/07) spielt, nur peinlicher, aber nicht besser wurde, soll nun offenbar das Theoriespektakel nachgeschoben werden. Der Kongress »No way out« wird keine kollektive Reflexion zum Zwecke der Subversion leisten können. Solch eine Reflexion müsste erkennen, dass Intervention etwas anderes bedeuten muss, als den diversen Fraktionen der No-Globals Grundlagen der Gesellschafts­kritik vorzubeten. Zu erwarten ist ein linksspektakuläres Ereignis, bei dem man sich für die nächste blamable Intervention theoretisch rüsten möchte. Und dementsprechend wird auf dem gesamten Kongress kein einziges vernünftiges Wort zu einem Thema zu vernehmen sein, bei dem es ganz praktisch – nicht im Sinne einer zum jargonhaften Nebelbegriff verkommenen »Totalität« – ums Ganze geht: nämlich der Verhinderung der Aufstockung des iranischen Vernichtungsarsenals mit Nuklearwaffen, die allerdings Interventionen erfordert, über deren Formen dringend zu diskutieren wäre.