Ungarn? Ungern!

Nach vier Jahrzehnten »Sozialismus« hat sich in Ungarn wieder eine rechtsextreme Szene etabliert. Es gibt Neonaziaufmärsche, gewalttätige Demonstrationen, alltäglichen Antisemitismus, Romafeindlichkeit und seit kurzem auch eine paramilitärische »Ungarische Garde«. von karl pfeifer

Ein wichtiger Punkt unterscheidet den ungarischen und den deutschen Rechtsextremismus voneinander. In Deutschland wollen die im Bundestag vertretenen Parteien sich nicht gemein machen mit der NPD und ähnlichen Formationen, die Rechtsextremisten bekommen keine Unterstützung von den Kirchen, und der Staat lässt keine uniformierten rechtsextremen Milizen zu. In Ungarn hingegen ist die von Viktor Orbán geführte größte Oppositionspartei Fidesz, die als liberale Studentenorganisation begonnen hat und heute Mitglied im Verband der konservativen Volksparteien ist, nicht bereit, ihre Verbindungen zu Rechtsextremisten, darunter auch gewalttätigen Neonazis, zu kappen.

Die Bedeutung der Gründung der »Ungarischen Garde« im Spätsommer versuchte die Fidesz zu verharmlosen, indem sie vorschlug, eine eigene »Vaterlandsgarde« innerhalb der Armee zu gründen. Der sozialistische Verteidigungsminister gab dafür als erster seine Zustimmung, was in seiner Partei Entrüstung auslöste. Auch gingen die Konservativen im Jahr 2006 mit den nicht im Parlament vertretenen rechtsextremen Parteien MIÉP und Jobbik Wahlbündnisse ein, und bei den Zusammenkünften der »Ungarischen Garde« sprach etwa die Fidesz-Abgeordnete Maria Wittner. Obwohl dies alles bekannt ist, haben sich die CDU und die CSU von ihrer ungarischen Schwesterpartei nicht distanziert, wobei hervorzuheben ist, dass die Beziehungen der CSU zur Fidesz besonders intensiv sind.

Die Rechtsextremisten fühlen sich wegen dieser Toleranz und der intensiven Medienberichterstattung noch bestärkt. Hatten im August lediglich 56 Gardisten den Eid geleistet, waren es im Oktober bereits 600, und sie marschierten in ihren schwarzen Uniformen mit der rot-weiß-gestreiften Arpad-Fahne, die früher die ungarischen Faschisten trugen, jedoch ohne das Pfeilkreuz, durch eine zentrale Prachtstraße Budapests. In einer Zeit, in der Teile der Bevölkerung arm sind bzw. verarmen und die Mehrheit sich angeekelt von skandalösen Korruptionsfällen von der Politik abwendet, können die Rechtsextremisten mit einem gewissen Zulauf rechnen.

Bei der Gründung der »Ungarischen Garde« im August – die vor dem Sitz des Präsidenten der Republik erfolgte – segneten Geistliche der katholischen, evangelischen und reformierten Kirchen ihre Fahnen. Von keiner Kirche kam bislang eine klare Distanzierung. Schlimmer noch: Der reformierte Pfarrer Lóránt Hegedüs jun., der auch Abgeordneter der MIÉP war, ist ein berüchtigter antisemitischer Hassprediger, dessen explizite Forderung, Juden auszugrenzen, in Ungarn von der Justiz nicht geahndet wurde und sogar von der Kirche toleriert wird. Dieser Pfarrer steht keinesfalls mit seiner Meinung allein da, einige seiner Kollegen teilen seine Anschauungen, und natürlich auch Gemeindemitglieder. Als er etwa zum Jahrestag des Aufstands von 1956 im Oktober eine antisemitische, rassistische Veranstaltung mitten in Budapest organisierte, hätte man energische Maßnahmen des Weltkirchenrats erwartet. Vor der eigenen Türe kehrt man aber offenbar ungern.

Was nützen alle Deklarationen der Kirchen, dass sie Antisemitismus ablehnen, wenn den Hetzern in der Praxis, mit Augenzwinkern oder durch Toleranz, zu verstehen gegeben wird: Macht nur so weiter? Im täglichen Sprachgebrauch vieler Ungarn wird das Wort »Christ« synonym für »Nichtjude« gebraucht. Kein Wunder, dass man in rechts­extremistischen Buchhandlungen Machwerke verkauft, die »beweisen«, dass Jesus Christus kein Jude war.

Immer wieder kann man die Nachsicht der ungarischen Behörden und zum Teil auch ihre Bereitschaft beobachten, den Rechtsextremen entgegenzukommen. Als man nach der Wende erwog, Gesetze zum Eindämmen der Hetze zu beschließen, sträubte sich die liberale SZDSZ dagegen. Eini­ge der aktiven Parteimitglieder hatten als Gäste der Soros-Stiftung die USA besucht und gaben sich der Illusion hin, Ungarn sei in einer ähnlichen Lage wie die gefestigte Demokratie der Vereinigten Staaten. Sie traten für eine absolute Meinungsfreiheit ein und bedachten nicht, dass die Leugnung des Holocaust und kruder Anti­semi­tismus keine Meinung sind. Insbesondere sollte man in einem Land, aus dem im Frühjahr 1944 binnen sechs Wochen fast eine halbe Million Menschen unter begeisterter Mithilfe der ungarischen Behörden nach Polen – und damit meist in den sicheren Tod – deportiert wurden, darüber nachdenken, ob die »Meinungsfreiheit« unbedingt für Neonazis und Revisionisten garantiert werden muss.

Zwar wurde Anfang November endlich vom ungarischen Parlament ein Gesetz beschlossen, das die Hetze einschränken soll, doch der eher konservative Staatspräsident László Solyom hat es nicht ratifiziert, sondern das Verfassungs­gericht gebeten, jenes Gesetz, das ganz ähnlich in anderen EU-Ländern gilt, zu überprüfen.

Die Biografien einiger älterer Rechtsextremisten ähneln der des antisemitischen Anführers der MIÉP, István Csurka, der nach 1956 Informant der ungarischen Stasi war und nach der Wende nahtlos ins »nationale« Lager wechselte. Nicht selten waren die wütendsten Antisemiten Funktionäre der ungarischen KP. Mit ihrem eher altbackenen Antisemitismus war die etablierte MIÉP allerdings einer Gruppe von jungen Studenten nicht radikal genug, die deshalb vor ein paar Jahren die Partei Jobbik gründeten. Die »Ungarische Garde« ist ihr Produkt.

Mit Sozialdemagogie, Chauvinismus und antisemitischer Hetze hoffen die MIÉP und Jobbik immer mehr Menschen auf ihre Seite zu ziehen. Ein Teil der Rechtsextremisten gibt sich darüber hinaus der Hoffnung hin, dass die Grenzen, die nach dem Ersten Weltkrieg im Friedensvertrag von Trianon 1920 festgelegt wurden, geändert werden können.

Leider haben 40 Jahre »Sozialismus« weder Chauvinismus noch Antisemitismus beseitigt. Im Gegenteil, durch das Leugnen dieser Phänomene und aufgrund des weitgehenden Mangels einer kritischen Öffentlichkeit sind sie privatisiert worden, um bei der ersten Gelegenheit wieder zum Vorschein zu kommen.