Zahlen wie die Schwaben

Die Arbeitsbedingungen bei den bereits existierenden neuen Briefdienstleistern lassen erahnen, wohin sich der liberalisierte Briefmarkt entwickelt. Mit der weit verbreiteten Neigung, aus einem öden Job zwei elende zu machen, wird der »Aufschwung« befördert. von winfried rust

Kein Monopol, kein Mindestlohn – der Briefmarkt mit seinem Volumen von über zehn Milliarden Euro jährlich wird zum 1. Januar vollends liberalisiert sein. Bisher gibt es hier neben der Deutschen Post AG etwa 750 zumeist regionale Anbieter mit einem Marktanteil von insgesamt etwa 20 Prozent. Oft erweitern Zeitungsverlage ihren Zustellbetrieb um Briefdienste, weil der Zeitungs­markt nicht mehr wächst.

Doch stagniert der Briefmarkt ebenfalls. Zum ei­nen dringt die elektronische Post inzwischen auch in das Segment der Geschäftspost ein, immer mehr Rechnungen werden per E-Mail verschickt. Zum anderen haben die neuen Wettbewerber kaum neue Ideen, Produkte oder Technologien zu bieten, mit denen sie attraktiver erscheinen könnten als die Deutsche Post AG. Es zeichnet sich ein reiner Verdrängungswettbewerb um ein stagnierendes Marktsegment ab, in dem sich die neu­en Wettbewerber lediglich dadurch behaupten können, dass sie niedrige Löhne auszahlen.

Gerd Koppenhöfer, der Projektleiter für Neue Briefdienste von Verdi in Baden-Württemberg, sagte im Gespräch mit der Jungle World: »Die EU wollte den Postmarkt gleichzeitig für alle öffnen. Jetzt ist es so, dass Deutschland den Postmarkt 2008 vollständig öffnet, aber die anderen Länder lassen sich noch Zeit. Jeder kann jetzt mit Bil­lig­lohn hier anbieten, aber z.B. die Deutsche Post kann noch nicht raus.« Die Neuaufteilung des Briefmarktes ohne die Vereinbarung über einen Mindestlohn für die Beschäftigten bewirke den beschleunigten Abbau von Arbeitsplätzen bei der Deutschen Post AG. »Das sind Arbeitsplätze, von denen Steuern und Abgaben bezahlt werden und von denen die Kollegen leben können. Post AG und Arbeitsplätze der Post bringen pro Jahr 2,3 Mil­liarden Euro an Steuern. Auf der anderen Seite haben wir die Billigheimer, wo die Leute nebenbei noch Hartz IV kriegen.«

Besser bezahlte Jobs verwandeln sich in schlechter bezahlte Jobs. Koppenhöfer nennt ein Beispiel: »In Heilbronn bei Regiomail ist ein Stunden­lohn von 5,91 Euro die Regel. Pin und TNT liegen in Süd­deutschland auf jeden Fall unter sieben Euro und in Norddeutschland weit darunter. Die Leute draußen glauben gar nicht, zu welchen Bedingungen die Leute hier arbeiten und bereit sind, das zu machen.«

Nicht nur in der Bezahlung unterscheiden sich die neuen Anbieter vom etablierten Postbetrieb: »Eine Kollegin bei Regiomail bekam einen Vertrag über 600 Euro. Aber es steht nicht drin, was sie machen oder wie lange sie arbeiten muss. Mit Nachfragen und Nachrechnen kommt man auf einen Stundenlohn von nicht mal vier Euro. Die weigern sich bis heute, eine Stundenzahl in den Vertrag zu schreiben.« Kurzfristig werde entschie­den, dass die Mitarbeiter für ihren Lohn mehr Auf­gaben übernehmen müssen als zunächst vereinbart. Die Auseinandersetzung um Arbeitnehmerrechte finde auf einem kläglichen Niveau statt: »Die schreiben in die Verträge hinein, was sie irgendwie dürfen. Ich habe vier Jahre Spedi­tion und Logistik gemacht. Da meinte ich immer, das wäre ein Mafia-Haufen. Aber man kann es toppen.«

Im Stuttgarter Raum macht ein anderer regionaler Briefdienstleister von sich reden: die Schwa­benpost. Sie gehört zur Zeitungsgruppe Stuttgart, die wiederum die Stuttgarter Zeitung und die Stuttgarter Nachrichten herausgibt. Rund 3 500 Menschen arbeiten dort, davon etwa 800 Briefzusteller. Bis März bekamen sie circa acht Euro pro Stunde. Seit April bekommen sie einen Stück­lohn von 14 Cent je Brief, womit sich der Stunden­lohn ungefähr halbierte.

Zum Skandal wurde die Unternehmenspolitik, als die Belegschaft einen Betriebsrat gründen wollte. Zuerst weigerte sich das Unternehmen, eine solche Initiative überhaupt anzuerkennen, und gab die Listen mit den Namen der Beschäf­tig­ten für die Wahlen nicht heraus. Bei einer »Umstrukturierung« wurde allen Briefdienstleistern gekündigt, und sie erhielten Formulare für neue Bewerbungen. Vier Mitarbeiter des Wahlvorstands für die Betriebsratswahl erhielten keine.

Verdi will das Arbeitsgericht einschalten und fordert die Rückkehr zu den alten Arbeitsverträgen, die Rücknahme der Kündigungen und Betriebsratswahlen ohne Behinderung. Die Verlagsgesellschaft selbst will mit den Praktiken ihrer Vertriebsgesellschaft nichts zu tun haben. Werner Sauerborn, Gewerkschaftssekretär bei Verdi Baden-Württemberg, hält den Konflikt für pikant: »Der Stuttgarter Verlag ist ein seriöser Zei­tungsverlag. Solche Machenschaften wie bei der Schwabenpost sind eigentlich völlig außerhalb des Wertespektrums dieser Zeitungen.«

Wenn die Arbeitsbedingungen bei der Schwaben­post Aufschluss geben über die neuen Arbeitsplätze, die mit der Liberalisierung des Briefmarktes einhergehen, sind die Aussichten schlecht. Ivo Garbe, Verdi-Beauftragter für Neue Briefdiens­te, nennt der Jungle World Einzelheiten aus den Vertragsbedingungen der Beschäftigten: »Seit April bekommen die Kollegen den Stücklohn von 14 Cent. Das Katastrophale ist: Es gibt keine weiteren Leistungen. Es gab bis März 20 Cent pro Kilo­meter Fahrpauschale für das Auto. Das wurde geändert in 20 Euro pro Monat komplette Entschädigung, also für Sprit, Versicherung usw. Es wird keine Lohnfortzahlung für Feiertage, Kran­kentage usw. gewährt. Es gibt Anspruch auf 24 Urlaubstage, die allerdings nicht bezahlt werden und für die selbst Vertretung organisiert werden muss.«

Auch die Infrastruktur der neuen Firmen ist mit jener der Deutschen Post AG nicht zu vergleichen. Garbe nennt ein Beispiel: »Da ist ein kleiner Schuppen ohne Telefon, ohne Feuerschutz oder mit primitivsten Arbeitsschutzbedingungen als Depot. Der Depotleiter gibt den Briefzustellern um sechs Uhr jeweils vorsortierte Taschen. Den Weg der Briefzustellung müssen die Zusteller selbst zuordnen. Wenn sie Glück haben, können sie das im Depot im Trockenen machen. Das zählt nicht zur Arbeitszeit. Ebenso wenig der Weg zum Bezirk oder gar der Weg zur Arbeit. In vielen Fällen werden die Briefe unter der Laterne sortiert oder an der Bushaltestelle bei den Kisten, die dort als Depots stehen. Es werden kein Auto, kein Fahrrad und keine Briefwägen gestellt.«

Solche Niedriglohnjobs gibt es auf dem derzeitigen Arbeitsmarkt immer mehr – auf Kosten der klassischen Anstellung mit Bezahlung nach Tarif. Der gegenwärtige »Aufschwung« ist der Tendenz geschuldet, aus einem öden Job zwei elende zu machen. Im Wettstreit der Ideologeme vom freien Wettbewerb einerseits und dem Prinzip »Gutes Geld für gute Arbeit« andererseits gewinnt derzeit das erste.