German Walking

Ausspannen in der Schweiz, mit Wandern und Lesen. Das hatte sich der Kleinunternehmer Jobst Böhme so schön vorgestellt. Bald hockt er in der Bergwelt und sichtet drei Manuskripte, die ihm ein befreundeter Schriftsteller mitgab. Aus der Lesereise wird ein Slalom in die Vergangenheit: Auch wenn man in Brigitte Kronauers Roman »Errötende Mörder« am Ende nur noch Bahnhof versteht – es lohnt sich, ihn zu lesen. Von Jan Süselbeck

Welche zehn Romane der letzten zehn Jahre würden Sie aus­ländischen Studierenden empfehlen?« Solche kniffligen Fragen werden einem ger­ne gestellt, wenn man als Litera­turwissenschaftler an der Universität arbeitet. Manchmal sind Professoren von weit her zu Gast, und die wollen so etwas dringend wissen.

War es ein Fehler, Brigitte Kronauers Roman »Errötende Mörder« in diese Liste aufzunehmen? Wahrscheinlich, ja. Oder auch nicht. So­viel ist sicher: 2005 erhielt die Schriftstellerin den Büchner-Preis der Darmstädter Akademie. Und im Gegensatz zu Martin Mosebach, der dieses Jahr damit geehrt wurde, obwohl er keinen einzigen korrekten Satz zu formulieren im Stande ist und in seiner Dankesrede meinte, die Französische Revolution mit den Zielen von Heinrich Himmlers SS assoziieren zu können, hatte Kronauer die Auszeichnung verdient.

»Errötende Mörder« ist ein Roman, der das nochmal deutlich unterstreicht. Keine einzige Figur in dieser polyphonen Prosa ist einem geheuer, keinem Satz traut man. Von Anfang an ist klar: Hier wurde an jeder Szene schwer getüftelt, da gibt es immer einen doppelten Boden, gesättigt mit mythischen und intertextuellen Anspielungen. Da schnupft man starken Tobak und lauscht dem vollen Glockenklang der klas­sischen Moderne. Kronauers Text ist eine ätzen­de Satire auf das deutsche Spießertum, auf die hanseatische Gutbürgerlichkeit und die überkom­mene Überzeugung, unser Ich sei Herr im eigenen Hause.

Die Typen, die diese Autorin auftreten lässt, haben Namen wie »Jobst Böhme« und »Sven Strör«. In den Köpfen dieser Männer bewegt sich wenig. Kommunizieren können sie jedenfalls nicht, und die Frauen, die ihnen nahe kom­men, taxieren sie genau so wie PC-Modelle oder neue Motorräder. Die Strafe folgt auf dem Fuße: Ehe sie sich’s versehen, sind diese Kerle alles, was sie unverdientermaßen einmal hatten, aufgrund ihrer eigenen Stumpfsinnigkeit los – und selbst mausetot.

Oder auch nicht. Denn die »errötenden Mörder«, über die Kronauer schreibt, sind Untote. Wie in den Werken von Elfriede Jelinek gehen auch in diesem Roman nach Auschwitz Zombies und Geister um, vor deren Einflüsterungen man sich in Acht zu nehmen hat. Leser, hört die Signale: Was uns da in idyllischen Bergtälern begegnet oder am Rande norddeutscher Großstädte vor sich hinvegetiert, das sind die Kinder der Toten.

Konstruiert ist das poetische Gruselkabinett ungefähr so: Jobst Böhme, ein pingeliger Büro­artikelhändler, will seine Frau nach zehn Jahren verlassen, weil sie den kleinen Finger immer so affektiert abspreizt. Außerdem wurde Natalja, die blutjunge russische Aushilfsverkäuferin mit ihrer »in mancherlei Hinsicht raffinierten Petersburger Zunge«, angenehm »unkompliziert seine Geliebte«.

Weil sich Böhme in dieser Situation insgeheim leblos wie ein Pappkarton fühlt, rät ihm ein Kunde, dem er dies gesteht, doch einfach einmal Pause zu machen und dazu sein Schweizer Ferienhaus zu nutzen. Der Gönner ist zufällig Schriftsteller und bittet darum, dass der Gast auf seinen heilsamen Bergwanderungen seine drei Prosamanuskripte Korrektur lesen möge, irgendwo in der schönen Natur. Niemand habe diese Texte bisher zu Gesicht bekommen, Böhme werde der allererste Leser sein: »Die Reihenfolge solle er selbst bestimmen, obschon er, der Autor, eine bestimmende Vorstellung davon habe (…). Diese Romane seien womöglich, wie das Binoztal, genau das Richtige für ihn!«

Bald darauf wandern wir auch schon mit dem Städter durch die Berge, und die Story wird lang­sam komplizierter. Nicht nur gibt es eine junge kroatische Putzfrau, die Böhme im Fe­rien­haus öfters stört und dabei durcheinander bringt – auf seinen disziplinierten Märschen trifft er auch noch wiederholt und immer entnervter auf einen Nordic-Walking-Kampfwanderer, dessen Auftritte rapide an Bedrohlichkeit gewinnen. Unterwegs setzt sich Böhme ungeachtet dieser Irritationen mitten in die dämoni­sche Landschaft und liest jeden Tag einen der geheimnisvollen Romane: »Und nun, in Gottes Namen, Start«, feuert er sich vor der Lektüre der ersten dieser Binnenerzählungen an – und wir beginnen, synchron mitzulesen.

Darin geht es um einen hochneurotischen Sammler, der sich, von seiner sparsamen, essgestörten Freundin verlassen, von einem Herrn Wolfsen bedroht fühlt und ab und zu von einer forschen Prostituierten Besuch bekommt. Die Erzählung scheint das kleinbürgerliche Milieu zu spiegeln, aus dem Böhme selbst stammt – und doch ist es ziemlich merkwürdig, dass er am Ende der Rahmenhandlung von der Kroatin, die ihm plötzlich als Bedienung in einem Restaurant wiederbegegnet, ebenfalls als »Herr Wolfsen« angesprochen wird.

Was geht da vor? Und stimmt Böhmes aufkommender Verdacht, dass der Schriftsteller ihn nur hierher geschickt hat, um ihm seine Natalja auszuspannen? Zum Schluss des Romans hin haben sich die verschiedenen Erzählstränge in einem Grade verwoben, dass der Leser kaum noch weiß, wo ihm der Kopf steht.

Am eingängigsten liest sich in dieser Komposition immer noch der zweite Text, den Böhme rezipiert und der denselben Titel wie Kronau­ers Roman trägt: »Errötende Mörder«. Darin fährt ein viriler Heißsporn in Motorradkluft mit einem Linienbus los, um bei irgendeinem Autohändler auf dem Land seine neue Honda abzuholen, auf der er mit seiner Freundin Franziska durch die US-amerikanischen Nationalparks zu reisen gedenkt. Daraus wird nichts, denn der Bus, in dem er sitzt, entpuppt sich als Trans­fer ins Jenseits. Die Odyssee führt durch end­lose Rapsfelder, und der junge Mann sieht sich zu seinem wachsenden Entsetzen von lauter geschwätzigen Alten und Senilen, teils aber auch seltsam reglosen Lemuren umgeben. Darunter befindet sich z.B. die erste Nachkriegs-Nachrichtensprecherin der BRD, und während es umher zusehends nach Exkrementen stinkt, sagt sie immer wieder nur das eine Wort: »Wunderbar!«

Damit gelingt Kronauer eine dichte, zynische und zugleich hochkomische Allegorie auf die aussterbende Generation der nationalsozialistischen Ära. Der Motorradfahrer gerät wider Willen unter die verlogenen Zeugen einer Zeit, in der Menschen – genauso wie die Schweine in den Transportern, die manchmal am Bus vorbeifahren und deren Fracht großes Wehklagen unter den unheimlichen Alten auslöst – in die Vernichtung deportiert wurden.

Die letzte Geschichte, die Böhme liest, bevor der Roman äußerst dubios in dem Todestal endet, in das der Protagonist seinerseits geraten ist, ist die verschlüsselteste. Es handelt sich um den inneren Monolog einer Frau, die einer weiteren Reisegruppe verwitterte Reliefs in einem dämmrigen Dom zeigt, dabei jedoch so sprunghaft assoziiert, dass man als Leser ungefähr so klar sieht, worum es geht, wie beim späten James Joyce.

Das macht aber nichts. Bekanntlich sind die Bücher, die man aus der Hand legt mit dem Gefühl, man habe eins über den Schädel gezogen bekommen, die besseren. Mit dieser Literatur sind wir noch lange nicht fertig. Wir werden Kro­nauers Bücher einmal genauer studieren müssen. Daran führt, spätestens nach diesem Roman, kein Weg mehr vorbei.

Brigitte Kronauer: Errötende Mörder. Klett-Cotta, Stuttgart 2007, 334 Seiten, 21,50 Euro