Der von Jörg Buttgereit herausgegebene Sammelband zu seinem Film »Nekromantik«

Kein Quickie mit Leichen

Vor 20 Jahren erschien »Nekromantik«. Ein Buch würdigt nun noch einmal Jörg Buttgereits radikalen Film über den safen, aber dennoch verunsichernden Sex mit einem Toten.

»Hin und wieder treffe ich Jörg Butt­gereit bei Pressevorführungen ak­tueller Horrorfilme. Wir sitzen dann meist im Filmpalast neben­einander in der vierten oder fünf­ten Reihe, nehmen im­mer die gleiche Parade von Blut und anderen Kör­per­flüs­sigkeiten ab, raunen uns hin und wie­der Kommentare zu. Das alles bedeutet nichts mehr. Alle Schlachten sind bereits geschlagen«, schreibt der Filmwissenschaftler Claus Löser. Die Sätze klingen resignativ. Wer den Film »Nekro­mantik« kennt und ihn mit erfolgreichen Pro­duk­tionen der vergangenen Jahre wie »Saw« oder eben »Hos­tel« vergleicht, wird Lösers Aussage zu­stim­men. Er trifft sie in dem ebenfalls als »Ne­kro­mantik« betitelten Buch, das zum 20. Jubiläum der Veröffentlichung von Jörg Butt­gereits Film erscheint.

In der Tat: In »Saw« erteilt ein krebskranker Psy­chopath seinen Opfern blutige Lektionen. In »Hostel« lebt der gelangweilte Jet Set seine sadis­tischen Gelüste an jungen Rucksacktouristen aus. Auf der einen Seite stehen die Guten. Auf der anderen Seite befinden sich die Bösen, sie sind entweder unendlich krank oder unendlich reich. Mit uns, den Zuschauern, haben sie jedenfalls nichts zu tun.

Robert Schmadtke, die von Daktari Lorenz ge­spielte Hauptfigur in »Nekromantik«, ist dagegen ein schmächtiger, unauffälliger, junger Mann. Er lebt mit seiner Freundin in einer kleinen Woh­nung in Berlin. Er geht einer täglichen Arbeit nach. Er ginge als völlig »normal« durch, teilte er sich nicht mit seiner Freundin die Neigung zur Nekrophilie, die dazu führt, dass Schmadtke im Verlauf der Handlung zum Mörder und Selbst­mörder wird.

Doch selbst dieser zugegebenermaßen recht ausgefallene Fetischismus wird nicht als das absolute Gegenprinzip zu gängigeren menschlichen Verhaltensweisen inszeniert. Die Ménage à trois, die Robert Schmadtke, seine Freundin und eine halbverweste Leiche für kurze Zeit ein­gehen, hat Jörg Buttgereit in ästhetisierten, zärt­lichen Bildern festgehalten. Sie zeigen keine perversen Monster, sondern Menschen, die unter enttäuschter, unerfüllter Liebe leiden. Und dieses Leiden hat der Leichenfetischist mit dem Sockenfetischisten und vielen anderen Personen gemein.

Und überhaupt, wer ist hier »normal« oder »unnormal«? Schmadtkes Kollegen bei der Firma für Reinigungsarbeiten an Unfallorten betrachten die Toten lediglich als Fleischmüll. Die Haupt­figur hat sich in ihrer extremen Neigung eine Sensibilität für die Körper bewahrt, die einmal von Leben erfüllt waren. In »Nekromantik« ist vor allem der Zuschauer gefragt: Er kann sich vor Schmadtke ekeln. Er kann Mitgefühl für die Figur empfinden. Höchstwahrscheinlich wird er sich aber nicht vollständig auf die eine oder auf die andere Seite schlagen können.

So bleibt der Betrachter irritiert und hin- und hergerissen zurück. Der Schauspieler, Filmkritiker und ehemalige Staatsanwalt Dietrich Kuhl­brodt macht in seinem Beitrag für das Buch zum Jubiläum eine »verwirrende Ambivalenz« als qualitatives Merkmal von »Nekromantik« aus. Diese Stärke beschränkt sich nicht auf die Psychologie der Charaktere. So schreibt Kuhlbrodt: »Auf der Kippe zwischen künstlerischem Anspruch und geiler Exploitation. Sensationell war es, sich an einer Leiche zu befriedigen. Ein Kunstwerk war es, die Verwirrung, die Isola­tion und die Befreiungsversuche verwirrter junger Leute in Bilder zu fassen.«

Freilich verprellte die Ambivalenz viele Zuschauer, unter anderem auch einen nicht ge­rin­gen Teil der Splatter-Fans. Als der Journalist Christian Keßler »Nekromantik« zum ersten Mal sah, war er 20 Jahre alt und Mitglied in ­einem Fanclub für Horrorfilme. Das Erlebnis be­schreibt er im Buch so: »Mit großen Erwartungen guckten wir uns das Werk also an und waren einigermaßen verdutzt, denn es handelte sich gar nicht um einen Horrorfilm. Wir waren irritiert, genasführt und in den Magen gepufft!«

Keßler fühlte sich nicht ohne Grund so. Buttgereits Film ist eine Enttäuschung im positiven Sinn. Er enthält die Stilmittel von Splatter- und Gorefilmen, lockt mit dem billigen Charme der Exploitation. Doch er enttäuscht die Erwartungen nicht nur, er verhöhnt sie noch dazu. In einer Szene begibt sich Schmadtke in ein Kino. Dort läuft das Klischee eines Slasherfilms: Ein mit einem Messer bewaffneter Mörder jagt eine kreischende Blondine durch ein Haus und bringt sie schließlich um. Der Film im Film dürfte den Erwartungen der Splatterfreunde eher entsprochen haben, war aber nur der ironische Abgesang auf ein künstlerisch größtenteils stagnierendes Genre.

Löser, Keßler und Kuhlbrodt haben aber kei­nes­wegs dröge Filmanalysen verfasst. Vielmehr gewähren sie in überaus subjektiven, biografisch gefärbten Texten auch einen Blick auf die Zeit, in der »Nekromantik« entstand. 1987 war es um die Kreativität der Kreuzberger Alternativszene im Umkreis des SO 36 nicht mehr allzu gut bestellt. Und so liefert Buttgereits Film auch eine zynische Metapher der Berliner Punkszene, die zu der Zeit längst auch nur noch um eine Leiche tanzte.

Johannes Schönherr eröffnet darüber hinaus eine Perspektive auf »Nekromantik«, die vielleicht am verblüffendsten ist. Er war zu Beginn der achtziger Jahre als Leichenbestatter auf dem Friedhof Connewitz in Leipzig tätig, ehe er 1983 in die BRD ausreiste. Mit dieser beruflichen Erfah­rung unterzieht der Autor den Film einem »Reali­ty Check«. Wie leicht lässt sich eine Leiche überhaupt entwenden? Wie schnell verwest sie unter welchen Bedingungen? Diese Fragen stellt Schön­herr und kommt »Nekromantik« betreffend zu erstaunlichen und amüsanten Antworten.

Nicht ganz so unterhaltsam ist hingegen der Beitrag der Filmwissenschaftlerin Linnie Blake, die den biografischen Angaben im Buch zufolge in ihrer akademischen Arbeit bisher »die Artikulierung nationalspezifischer Traumata vom Holocaust bis Hiroshima, von Vietnam bis zum Thatcherismus im Horrorkino untersucht« hat. Nun liegt der Bezug in »Nekromantik« zur bundesdeutschen Vergangenheitsbewältigung tatsächlich auf der Hand. Robert Schmadtke arbeitet bei einem Unternehmen mit dem Namen »Joe’s Säuberungs-Aktionen«, kurz JSA. Das Logo der Firma ziert ein Totenkopf, der an das Emblem der SS erinnert. Die Arbeiter von JSA entsorgen Leichen mit kaltem Kalkül. Die Hauptfigur liebt Tote, stiehlt eine Leiche, entreißt sie also der Vergessenheit, wird über all dem irre und entleibt sich letztlich in Fontänen von Sper­ma und Blut.

Buttgereits Szenario dem Neuen Deutschen Film zuzuschlagen, wie Blake es tut, ist sicher fraglich. Dem widerspricht bereits Kuhlbrodt: Denn die Anfänge der Punkbewegung, aus der auch Buttgereit kommt, hatten »mit dem Natio­nalen (»Deutscher Film«) nichts am Hut«. Blake erklärt Buttgereit zudem zu einem Geistesverwandten des Regisseurs Hans-Jürgen Syberberg. Das geht endgültig zu weit. Denn Syberberg ver­klärt den Nationalsozialismus unter anderem in seinem siebenstündigen Machwerk »Hitler – Ein Film aus Deutschland« zur Nestbeschmutzung, die den »nationalen Geist« missbraucht habe. Die Irrationalität der »deutschen Volksseele« gilt es nach Syberbergs Ansicht zu rehabilitieren. »Nekromantik« eine ähnliche Intention zu unterstellen, macht einen beinahe sprach­los.

Kontrovers lässt sich also auf jeden Fall auch 20 Jahre nach der Uraufführung noch über den Film und seine Rezeption sprechen. Jörg Buttge­reit müssen die Ansichten der Autorin und der Autoren aber akzeptabel erscheinen. Schließlich ist er selbst der Herausgeber des Buches. Es erscheint mit zahlreichen Bildern ausgestattet auf Deutsch und auf Englisch. Und letztlich wird sich Buttgereit wohl auch geschmeichelt fühlen, findet sich doch an einer Stelle das durchaus zutreffende Urteil: »Nekromantik ist ein großer Film, kein Quickie.«

Jörg Buttgereit (Hrsg.): Nekromantik. Mit Beiträgen von Linnie Blake, Christian Keßler, Dietrich Kuhlbrodt, Claus Löser, Johannes Schönherr, Marcus Stiglegger. Martin Schmitz Verlag, Berlin 2007, 232 S., 17,80 Euro