Die Masse macht’s

Überwachung ist nicht erst mit dem neuen Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung zum Massengeschäft geworden. Die Mehrheit der Bevölkerung scheint nichts dagegen zu haben. kommentar von ron steinke

Bis in die achtziger Jahre hinein war es noch gut möglich war, dass ein Mensch sein Leben lang nie mit der Polizei in Berührung kam. Maßnahmen wie die Vorrats­daten­speicherung, die Video­überwachung oder das automatische Scannen von Kfz-Kennzeichen betreffen dagegen alle, die ihre Wohnung verlassen oder den Hörer abheben, wenn das Telefon klingelt.

Verdächtig oder nicht? Die herkömmliche Unterscheidung wird mit jeder dieser neuen Überwachungsmethoden irrelevanter. Rein vorsorglich (»präventiv«) werden damit alle in den Blick genommen – man kann ja nie wissen!

Die starke Ausweitung der auch präventiven Über­wachung setzte freilich nicht erst ein, als Wolfgang Schäuble (CDU) das Amt des Bundesinnenministers übernahm, sondern bereits zu Beginn der neunziger Jahre. Ursprünglich war die Telefonüberwachung nur zur Aufklärung von wenigen, besonders schweren Verbrechen erlaubt. Heutzutage reicht es bereits aus, Marihuana zu verkaufen. Daneben kann die Polizei seit 2005 in sechs Bundesländern Telefone auch gänzlich »präventiv« abhören, also ohne überhaupt einen Tatverdacht zu hegen.

Die Vorratsdatenspeicherung, die am 1. Januar in Kraft treten soll, wird die bereits praktizierte präventive Speicherung aller Telekommunikationsdaten von drei auf sechs Monate verlängern. Darüber hinaus sollte man sich bei jeglicher Form der Kommunikation, die Datenspuren hinterlässt, beim Autofahren, Geldüberweisungen oder U-Bahn-Fahrten bewusst sein, dass all diese Handlungen nachzuvollziehen sind.

Die bemerkenswertesten Auswirkungen dieser Entwicklung betreffen unterdessen gerade nicht das Verhältnis des Staats zu Straftäterinnen und Straftätern, sondern vielmehr das Verhältnis des Staats zu jener großen Mehrheit der Bevölkerung, die meint, »nichts zu verbergen« zu haben. Sich allein diese Frage zu stellen – »Habe ich etwas zu verbergen?« – bewirkt, dass sich Menschen mit den Augen des potenziellen Beobachters betrachten: Könnte etwas an mir suspekt sein? Habe ich nicht einige ziem­lich komische Freunde, mache ich nicht manch­mal in E-Mails politisch unkorrekte Witze? Mechanismen der Überwachung, die ursprünglich für den Umgang des Staats mit Straftäterinnen und Straftätern ersonnen wurden und deren sozial disziplinierende Effekte dabei natürlich auch beabsichtigt waren, finden Eingang in den Alltag sämtlicher Bürgerinnen und Bürger.

Gleichzeitig wird das Thema Strafverfolgung damit an die gesamte Gesellschaft heran getragen. Entweder man hat »etwas zu verbergen« oder man hilft den Strafverfolgungsbehörden, indem man ihnen, freilich eher passiv, Daten zur Verfügung stellt. Eine schlichte Nicht-Teilnahme gibt es aber nicht mehr.

Wie, Sie möchten einfach einmal in Ruhe gelassen werden? Diese Vorstellung von einer »idyllischen, vorstaatlichen und vorrechtlich konstruierten Freiheit des Einzelnen«, wie Schäuble sie kürzlich in einem Gastbeitrag für die Zeit abschätzig nannte, steht im gegenwärtigen Konzept nicht zur Auswahl und ist mit jener »Freiheit«, die der Innenminister nach eigenem Bekunden verteidigt, auch gar nicht gemeint.

So verlangt die Thematik anscheinend von jedem eine Entscheidung: Auf wessen »Seite« möchte man stehen, auf der Seite des Staats oder auf der Gegenseite? Dass die meisten Menschen sich für Erstgenanntes entscheiden und nicht die Fragestellung selbst in Frage stellen, sollte nicht überraschen. In der Folge weiß Schäuble tatsächlich die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich. Begünstigt wird dieser Umstand auch dadurch, dass die heutige terroristische Bedrohung, anders als das, was in früheren Jahrzehnten so bezeichnet wurde, sich nicht gegen einzelne Funktionsträger des Staates, sondern tatsächlich gegen die gesamte Bevölkerung richtet.

So avanciert die polizeiliche Überwachung vom Nischen- zum Massengeschäft, und die Massen werden dadurch sogar eingebunden.