Eine angekündigte Kollision

In den Pariser Vororten herrscht wieder Ruhe. Doch der Tod von zwei Jugendlichen, der die Riots ausgelöst hatte, ist nicht aufgeklärt. Nachdem ein Handy-Video aufgetaucht ist, halten viele die Polizeiversion eines Verkehrsunfalls für unglaubwürdig. Wie werden die Vorfälle in Villiers diskutiert? von bernhard schmid

Das Erste, was auffällt, ist der Anschein idyllischer Banalität. Wer in Villiers-le-Bel aus dem Bus steigt, findet keine gigantischen Wohnsilos vor. Weder riesengroße Hochhaustürme noch Plattenbauriegel. Von der Haltestelle aus kommt man zunächst in einen historischen Dorfkern. An den Straßen befinden sich schmucke Häuschen und kleine Läden. Manchen von ihnen sieht man an, dass sie vor vielleicht zwei Generationen noch Bauernhöfe waren. Dieser Teil von Villiers-le-Bel trägt heute auch offiziell den Namen »Le Village«, das Dorf.

Einige Querstraßen weiter findet man dann die Kollektivsiedlungen des sozialen Wohnungsbaus, die heutzutage 50 Prozent der Gesamtzahl der Wohnungen ausmachen. Alles fällt hier eher unspektakulär aus. Mit drei bis zehn Stockwerken sind die Häuser wesentlich kleiner als die Plattenbauten in anderen Pariser Trabantenstädten wie Argentueil, Nanterre oder La Courneuve.

Wie vor zwei Jahren Clichy-sous-Bois wurde Villiers-le-Bel in den vergangenen Wochen weltbekannt. Der Tod der 16 und 15 Jahre alten Larami Samoura und Moushin Sehhouli nach einer Kollision mit einem Polizeiauto am 25. November wurde zum Auslöser einer sozialen Explosion, in deren Verlauf sich vor allem Jugendliche heftige Kämpfe mit der Polizei lieferten.

Villiers-le-Bel liegt 18 Kilometer vom Pariser Zentrum entfernt. Beinahe glaubt man sich auf dem Lande, vor allem bei der Fahrt über das von Äckern gesäumte riesengroße Brachgelände, das den Großteil der Stadt von der Zone rund um den Bahnhof trennt. Das Brachland wird seit 30 Jahren vom Staat für die Verlängerung der Autobahn A16 reserviert, die nie gebaut wurde. Über den Acker sieht man hinüber nach Sarcelles mit seinen Plattenbausiedlungen und Hochhauskomplexen.

Was in Villiers auffällt, sind nicht die Plattenbauten, sondern der andauernde Lärm: Alle paar Minuten gleiten Flugzeuge im Start- oder Landeanflug über die Häuser.

Villiers liegt in der Einflugschneise des Pariser Großflughafens Roissy-Charles de Gaulle. Mit 76 000 Arbeitsplätzen ist er der größte Arbeitgeber der Île-de-France. Diese sind den Einwohnern von Villiers-le-Bel, vor allem den jüngeren oder ärmeren unter ihnen, aber kaum zugänglich. Wer kein eigenes Auto besitzt, hat keine Chance, einen dieser Jobs zu besetzen. Die Arbeitszeiten sind flexibel, und den Flughafen von hier aus mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen, ist vollkommen aussichtslos, obwohl er in unmittelbarer Nähe liegt. Die schlechte Erreichbarkeit des nahen Flughafens verstärkt den Eindruck räumlicher Abgeschlossenheit, der von der Brachfläche vermittelt wird.

Früher war es nicht unattraktiv, hier zu wohnen. In 15 Minuten S-Bahn von Paris konnte man in ländlicher Umgebung und nahe am Grünen leben. Arbeiter und Angestellte ließen sich hier nieder, nachdem der Staat in den sechziger Jahren massiv in den Wohnungsbau investiert hatte. In der Hauptstadt und ihrer Umgebung gab es noch genügend Arbeitsplätze. Über die geo­grafische Lage der Stadt machte man sich kaum Gedanken, man war vor allem am Abend und am Wochenende dort und mitunter froh, vom Treiben der Großstadt ein wenig abgeschnitten zu sein.

Mit zunehmender Arbeitslosigkeit veränderte sich das. Ohne regelmäßiges Einkommen kann man sich die teuren Verkehrsmittel etwa nach Paris nicht mehr oft leisten. Wer es rechtzeitig schaffte, zog fort. Wer geblieben ist, weiß, dass eine Adresse hier die Chancen auf einen Job schmälert. Soziale Krisenphänomene und Gewalt nahmen zu. Wer als Jugendlicher einmal »Dummheiten« begangen hat oder der Polizei aufgefallen ist, hat rasch verspielt. Um etwa am Flughafen zu arbeiten, darf man nicht nur kein Vorstrafenregister aufweisen, man darf auch nicht in sonstiger Form in den Polizeiakten erscheinen. »Aus Sicherheitsgründen«, wie es heißt.

40 Prozent der Bevölkerung ist in Villiers-le-Bel jünger als 25. Ein Drittel davon findet keinen Job. In den Siedlungen des sozialen Wohnungsbaus der Stadt bündeln sich die sozialen Probleme. Es ist kein Zufall, wenn hier gesellschaftliche Krisen akut werden, zu deren Katalysator vor zwei Wochen der Tod der zwei Jugendlichen wurde.

Es ist bislang noch ungeklärt, wie die Kollision am frühen Abend des 25. November ablief. Die offizielle Version lautet, dass die beiden Jugendlichen ohne Sturzhelm auf einem im Französischen als Mini-Moto bezeichneten Crossmotorrad fuhren, und an einer Kreuzung dem Polizeifahrzeug die Vorfahrt genommen haben. Daher sei das Minimotorrad, von links kommend, in das Polizeifahrzeug hinein gefahren. Dieses sei mit 40 bis 50 Stundenkilometern, also mit moderater Geschwindigkeit, gefahren. Larami und Moushin seien durch die Luft geschleudert worden und sofort tot gewesen. Gegen diese offizielle Version wird aber der Zustand des Polizeifahrzeugs angeführt. Dieses weist auf seiner gesamten Vorderseite – auf der linken ebenso wie auf der rechten Flanke und vorne – schwere Schäden auf, wie sie nur von einer heftigen Kollision im vorderen Bereich stammen können. Darauf hatte die Polizei wiederum eine Antwort: Junge Aufrührer hätten das Polizeiauto nachträglich mit Eisenstangen demoliert.

Unglaubwürdig wurde die Polizeiversion vor allem, nachdem die liberale Pariser Abendzeitung Le Monde am Mittwoch der vergangenen Woche ein Amateurvideo veröffentlichte, das unmittelbar nach dem Unfall mit einem Handy aufgenommen worden war. Ein Anwohner, der sofort nach dem Ereignis auf die Straße gegangen war, hatte es gedreht. Das Video zeigt deutlich, dass sich das Polizeifahrzeug bereits in dem Zustand befand, den es auch später aufwies.

Auf die Frage, was hinter dem Geschehen stehe, antwortet ein junger Mann, der mich anspricht, weil ich die heruntergebrannte Polizeiwache fotografiere: Er selbst verurteile die schweren Ausschreitungen, die sich infolge des Todes von Larami und Moushin in seiner Stadt abgespielt haben, die Ursachen seien aber für ihn klar. »Nicht alle, aber einige Polizeibeamte sind ausgesprochen rassistisch und schikanieren vor allem die Jugendlichen aus Einwandererfamilien«, erzählt er. »Viele der Jugendlichen aus den sozialen Unterschichten wiederum vertreiben ihre Zeit damit, auf kleinen Crossmotorrädern durch die Gegend zu heizen. Das nervt die Polizisten, die sich darauf verlegt haben, diesen Jugendlichen Angst einzujagen.« Die Methode sei bekannt: »Man verfolgt sie im Auto und versetzt ihnen einen Stoß von hinten, um ihnen Furcht einzuflößen. Das haben die beteiligten Beamten bestimmt auch in diesem Fall versucht«, meint er. »Sie wollten sie nicht töten, nur von hinten anfahren. Aber dieses Mal haben sie zu stark beschleunigt. Ein Freund von mir ist Ingenieur und war bei einer Firma in der Unfallforschung tätig: Er meint, so wie das Auto aussieht, müssten sie zum Zeitpunkt der Kollision 120 Stundenkilometer drauf gehabt haben, sonst könnte es nicht in solch einem Zustand sein. Deshalb sind die Polizisten nach dem Unfall abgehauen, statt Erste Hilfe zu leisten. Sie wussten, dass sie eine Dummheit gemacht hatten.«

Seine Meinung wird von anderen jungen Leuten geteilt. Die Jurastudentin Kahina*, berichtet, diese hätten erzählt, zwei bis drei Wochen vor dem tödlichen Unfall hätten Polizisten anderen Jugendlichen in Villiers-le-Bel gedroht: »Wenn ihr mit eurem blöden Crossfahren nicht aufhört, dann fahren wir euch über den Haufen.« Ähnliches berichtete auch die Familie eines der beiden ums Leben gekommenen Jugendlichen am Montag voriger Woche im Fernsehen.

Bei den Riots wurden öffentliche und private Gebäude, etwa die Polizeiwache, die Niederlassung eines Autohändlers und eine Bibliothek, niedergebrannt. Insgesamt wurden bei Zusammenstößen mit den Sicherheitskräften an den ersten drei Tagen 120 Polizisten verletzt. Vier von ihnen wurden mit schweren Verletzungen durch Beschuss mit Schrotmunition stationär behandelt. Seit Mitte der vergangenen Woche ist eine prekäre Ruhe in die Stadt eingezogen, nachdem starke Polizeikräfte aus der gesamten Region Île-de-France dort konzentriert worden waren, um neu ausbrechende Riots im Keim zu ersticken. Auch das Elite-Sondereinsatzkommando Raid, das mit der deutschen Sondereinheit GSG9 verglichen werden kann, kam hier zum Einsatz, um mit Hilfe von Spezialkameras nach Schusswaffen zu suchen.

Ein Hubschrauber mit Suchscheinwerfer zieht unweit von uns seine Kreise und leuchtet die Straßen aus. »Die Hubschrauber kommen nicht bis direkt hierher, sie bleiben über den Sozialbausiedlungen und kreisen dort ständig«, erzählt ein anderer junger Mann vor der ausgebrannten Polizeiwache. »Das geht die ganze Nacht so. Wenn sechs oder sieben Helikopter über deinem Kopf kreisen, ist es unmöglich zu schlafen.«

Auf der von Stadtteilgruppen organisierten Versammlung, die sich an »Jugendliche aus allen Wohnbezirken von Villiers« richtet, sind Journalisten ausdrücklich unerwünscht. Darüber, dass die Medien über die Vorgänge in Villiers gelogen und sich nur an sensationellen Bildern interessiert gezeigt hätten, ist man sich einig. Anwesend sind Gruppen wie die Bürgerinitiative »AC le feu!« aus Clichy-sous-Bois. Dort löste im Herbst 2005 der Tod zweier Jugendlicher, in den ebenfalls die Polizei verstrickt war, heftige Unruhen aus. Damals breiteten sich die Ausschreitungen schnell auf ganz Frankreich aus und dauerten über drei Wochen an. Dieses Mal blieben sie auf wenige Nachbarstädte und einige »heiße« Nächte beschränkt. Das liegt unter anderem daran, dass die Ausgangssituation weniger klar war als damals in Clichy-sous-Bois. Dort war sofort klar, dass die Jugendlichen von der Polizei verfolgt worden und auf der Flucht gestorben waren.

Die Initiative aus Clichy, die mit Menschen aus 120 Städten und Vorstädten in ganz Frankreich einen Katalog gesellschaftlicher Forderungen erarbeitet hat, versucht an diesem Abend, ihre Erfahrungen weiterzugeben. Rund 50 Jugendliche und einige wenige Erwachsene sind gekommen. Das Publikum ist gemischt, wenngleich zu zwei Dritteln schwarz. Viele westafrikanische Einwanderer sind in Villiers in Initiativen und Vereinen organisiert.

Während der Diskussion wird deutlich, dass es heftige Konflikte zwischen unterschiedlichen Stadtteilen oder Siedlungen von Villiers-le-Bel gibt. Oftmals kehrt der Satz wieder: »Noch nie habe ich eine solche Solidarität in Villiers gesehen wie in den Tagen nach dem Tod von Lamari und Moushin, und ich bin hier geboren.« Viele bedauern die Formen, die die Riots angenommen haben, etwa das Niederbrennen einer Bibliothek. Für andere jedoch ist das zweitrangig. Ein etwa 15jähriges Mädchen übernimmt das Mikrofon, nachdem ein junger Mann dazu aufgefordert hat, dass doch auch mal die Frauen und Mädchen das Wort ergreifen sollten. Unter allgemeiner Zustimmung sagt sie, das Traurige sei, dass es erst zu solch einem dramatischen Vorfall kommen musste, »damit man überhaupt reagiert«.

Viele äußern den Wunsch, sich in irgendeiner Form zu organisieren. Etwa in einem Kollektiv »Wahrheit und Gerechtigkeit«, wie sie in anderen Trabantenstädten bereits gegründet wurden, um Aufklärung über Todesfälle unter Mitverantwortung der Polizei zu fordern. Man könne sich auch mit Menschen aus anderen Orten zusammenschließen, wo es ganz ähnliche Probleme gebe, meinen einige Redner aus Villiers, unterstützt von Leuten aus Clichy-sous-Bois oder aus Paris. Ein vielleicht 30jähriger Schwarzer meint dagegen, das sei ihm egal: »Ich will meine Probleme nicht irgendwann lösen, sondern jetzt sofort und hier in Villiers-le-Bel. Das übrige Frankreich ist mir egal.« Zuvor beschwerte derselbe Redner sich lautstark über seine Schwierigkeiten. Weil er selbst oder sein Bruder Probleme mit der Justiz gehabt habe, könne er keine eigene Security-Firma gründen, und auch am nahen Flughafen in Roissy lasse man ihn nicht arbeiten. Dabei »gibt es viele Leute hier, die gern ihr Unternehmen aufziehen, und nicht immer Arbeiter sein möchten«. Eine Kleinunternehmerkarriere, das ist in den Banlieues nicht untypisch, vor allem im Sicherheitsbereich.

Nach einer guten Stunde gehen die jüngsten Teilnehmer, denen die Diskussion zu allgemein geworden ist und die nicht mehr folgen können oder wollen. Es wird erst einmal pausiert und in informellem Rahmen weiter diskutiert, bevor die Diskussion wieder aufgenommen wird – etwa über die Frage, ob kommunale Mandatsträger auch Verbündete sein könnten oder ohnehin nichts von ihnen zu erwarten sei.

Eine andere Frage ist, wie man es vermeiden könne, dass die extreme Rechte aus den Ausschrei­tungen politisches Kapital schlägt. Denn gerade hier steht derzeit ein prominentes Führungsmitglied des Front National, Jean-Michel Dubois, im Wahlkampf. Im Wahlkreis von Sarcelles ist Mitte Dezember ein frei gewordener Abgeordnetensitz neu zu besetzen. Dubois hat es verstanden, kurz nach Ausbruch der Riots geschickt die in Teilen der Gesellschaft aufgebrochenen Ängste aufzugreifen.

Ob es der extremen Rechten insgesamt gelingt, von dieser Situation zu profitieren, ist unklar. Auch die radikale Linke versucht nun, sich an die Bewohner der benachteiligten Zonen in den Banlieues zu richten. Die großen Parteien hingegen reagieren überwiegend mit Schweigen und dem Ruf nach stärkerer Polizeipräsenz, auch wenn der sozialdemokratische Parteichef François Hollande inzwischen »volle Aufklärung« über den tödlichen Unfall als Ausgangspunkt der Unruhen fordert.

* Name von der Redaktion geändert