Enteignen für die Unternehmer

Um eine Sonderwirtschaftszone zu errichten, will die von einer KP geführte Regierung im indischen Bundesstaat Westbengalen Dorfbewohner vertreiben. von lutz getzschmann

Westbengalen war einst neben Kerala der ganze Stolz der indischen Kommunisten. Seit 1977 stellen sie dort die Regierung. Doch schon seit länge­rem ist der Bundesstaat für die Linke ein Symbol für die Sozialdemokratisierung der KP gewor­den. Während andernorts die linken Parteien gegen den »Neoliberalismus« zu Felde ziehen und die schwerwiegenden Folgen der kapitalistischen Modernisierung für die Arbeiter und Kleinbauern anprangern, betreibt Westbengalens Linksfront-Regierung diese Modernisierung selbst.

Vor allem die größte Partei der Linksfront, die Communist Party of India (Marxist), die sich 1964 als radikalere prochinesische Fraktion von der KP abspaltete und inzwischen die mit Abstand be­deutendste Organisation der indischen Linken ist, bekam die peinlichen Widersprüche zwischen ihrer oppositionellen Haltung auf Unionsebene und der Realpolitik in Westbengalen schon des öfteren zu spüren. So startete die CP(M)-Führung Anfang 2006 eine landesweite Kampagne gegen die geplante Privatisierung der Flughäfen von Delhi und Mumbai. Die großen Medien konnten hämisch darauf hinweisen, dass zum gleichen Zeitpunkt die westbengalische Regierung die Privatisierung des Flughafens von Kolkata vorbereitete.

Nicht besser erging es der CP(M)-Führung, als sie ihre Ablehnung ausländischer Direktinves­ti­tionen in die indische Wirtschaft bekundete. Denn zur gleichen Zeit forcierte Westbengalens Chief Minister Buddhadeb Bhattacharya seine Bemühungen, ausländische Investoren anzulocken.

Eine neue Brisanz erreichte die kapitalfreundliche Ausrichtung der linken bengalischen Regierung Ende 2006, als die Einrichtung einer Sonderwirtschaftszone für einen indonesischen Chemiekonzern in dem Dorf Nandigram beschlossen wur­de. Die Dorfbewohner, deren Land enteignet werden sollte, protestierten. Als es zu Übergriffen ge­gen Kader der CP(M) in deren bisheriger Hochburg Nandigram kam, ordnete der westbengalische Regierungschef eine Polizei­aktion an. Polizisten und bewaffnete Unterstützer der CP(M) schossen am 14. März auf eine Bauerndemons­tration, es gab 14 Tote und etwa 70 Verletzte. Da­rüber empörten sich nicht nur die wichtigsten westbengalischen Oppositionsparteien, die Congress Party, und deren regionale Abspaltung, der Trinamool Congress, sondern auch die linken Koalitionspartner, die mit ihrem Rückzug aus der Regierung drohten.

Gerade die Landbevölkerung hatte seit 30 Jahren die Linksregierung besonders stark unterstützt, weil die Kommunisten durch eine Land­reform die Macht der Großgrundbesitzer im Bun­des­staat stark eingeschränkt und den Lebensstan­dard der Kleinbauern gehoben hatten. Schließ­lich stellte die Regierung ihre Pläne für die Sonder­wirtschaftszone vorerst zurück. Doch Chief Minister Bhattacharyas Erklärungen zu den Übergriffen schwankten zwischen Bedauern und Recht­fertigung. Der Staatsgerichtshof in Kolkata dagegen verurteilte am 16. November den Polizeieinsatz als »völlig unrechtmäßig« und wies die west­bengalische Regierung an, den Verletzten sowie den Familien der Getöteten ein Schmerzens­geld von jeweils 100 000 Rupien (knapp 2 000 Euro) zu zahlen.

Die von der Congress Party geführte indische Unionsregierung ist in der unbehaglichen Lage, auf die Tolerierung der Linksfront angewiesen zu sein. Sie nutzte die Gelegenheit, den ungeliebten Partner CP(M) zu schwächen, und ordnete eine Untersuchung der Vorgänge durch die Unions­polizeibehörde CBI an. Diese nahm acht mutmaß­lich an dem Massaker beteiligte CP(M)-Mitglie­der aus Nandigram in Haft und beschlag­nahm­te größere Mengen an Schusswaffen und Muni­tion.

Die ehemals maoistische Partei schien erledigt zu sein, zumindest in diesem Teil Westbengalens. Eine lokale Bauernorganisation begann, systematisch deren aktive Mitglieder aus dem Dorf zu vertreiben. Anfang November jedoch ging die CP(M) zur Gegenoffensive über, bewaffnete Trupps der Partei eroberten Nandigram und die umliegenden Dörfer wieder zurück, schüchterten Anhänger der Opposition ein und schossen auf eine spontane Protestkundgebung des Trinamool Congress, wobei zwei Menschen getötet wurden. Die westbengalische Staatspolizei sperrte die Gegend um Nandigram weiträumig ab und ging gegen Demonstranten und Journalisten vor.

Aus Protest dagegen riefen für den 12. November zahlreiche Parteien, von der hindu-nationalis­tischen BJP bis zur inzwischen legalisierten ehemaligen Guerillaorganisation CPI/ML-Liberation, und Gewerkschaften zu einem Bandh auf, einem mit Straßenblockaden und der notfalls gewaltsamen Schließung aller Läden verbundenen Generalstreik. Der Aufruf wurde in Kolkata und wei­ten Teilen Westbengalens befolgt.

Überdies kündigten zahlreiche linke Filmemacher an, das in diesem Winter stattfindende 13. Kolkata-Filmfestival boykottieren zu wollen. Das Festival ist eines der Prestigeprojekte der west­bengalischen Regierung, es soll den künstlerischen und politischen Gegenpol zum Bollywood-Kino bilden.

Während des Streiks kam es vor allem in Kolkata zu Straßenschlachten, schließlich wurde sogar die Armee zu Hilfe gerufen. Allerdings waren die Ausschreitungen überwiegend das Werk mus­li­mischer Gruppen, die, unterstützt vom Trinamool Congress, gegen die Anwesenheit der Schrift­stellerin Taslima Nasreen protestierten. Nas­reen musste aus Bangladesh fliehen, ihr wird vorgeworfen, in ihren Büchern den Islam beleidigt zu haben. Auch im indischen Exil wird sie verfolgt.

Während der Generalstreik gegen die Gewalt in Nan­digram nach 24 Stunden beendet war, flamm­ten die gewalttätigen Proteste der muslimischen Gruppen danach erst richtig auf. Ein Trauerspiel war erneut die Haltung der westbengalischen Regierung, die, offensichtlich von den Massenpro­testen irritiert und bemüht, nicht noch mehr Gruppen gegen sich aufzubringen, Nasreen als Risiko für die öffentliche Sicherheit bezeichnete und sie aufforderte, den Bundesstaat zu verlassen. Als namhafte linke Intellektuelle gegen diese schäbige Haltung protestierten und die Solidarität aller säkularen Kräfte mit Nasreen einforderten, rang die Regierung sich dazu durch, ihr den Aufenthalt zu gestatten.

Die erst Anfang des Jahres zum siebten Mal in Folge mit fast 70 Prozent der Stimmen wiedergewählte Linksfront-Regierung steht vor einem Desaster. Ihre Politik der kapitalistischen Moder­nisierung, die sie bisher diskret voranzutreiben versuchte, steht im Brennpunkt der Proteste. Auch das selbstherrliche Vorgehen gegen demons­trierende Landbewohner und oppositionelle Gruppen löst Empörung aus. Gerade diejenigen, die bisher in scheinbar unerschütterlicher Loya­lität zur CP(M) standen, wenden sich nun von ihr ab.

Gestärkt geht vor allem der Trinamool Congress aus dieser Auseinandersetzung hervor, der, obwohl rechts der Regierungsparteien stehend, alles versucht, unter kommunistischen Stammwählern um Sympathien zu werben. Auch die linke Opposition wächst. Basisbewegungen, die CPI/ML-Liberation, aber auch maoistische Guerillagruppen treten verstärkt in Erscheinung. Im September legten Guerillakommandos mehrere Eisenbahnstrecken in Westbengalen lahm. In Bihar und Jarkhand riefen die Maoisten, die ihre Operationen in den vergangenen zwei Jahren beträchtlich ausweiten konnten, aus dem Untergrund zu Proteststreiks gegen die Erstürmung Nandigrams auf, die teilweise befolgt wurden. Die Zeiten, in der die Linksfront die sich verschär­fenden Klassenkonflikte moderieren und kana­lisieren konnte, scheinen vorbei zu sein.