Mehdorns Spielregeln

Der Arbeitskampf der Lokführer geht in seine entscheidende Runde. Mit dem jüngs­ten Angebot, das keine der Forderungen der GDL erfüllt, hat sich die Bahn in der Öffentlichkeit einen Vorsprung verschafft. Von Felix Klopotek

So schnell kann das gehen: »Punktsieg für Mehdorn« kommentierte in der vorigen Woche die Zeit. »Die Lokführer sind im Konflikt mit der Bahn erstmals in der Defensive«, schrieb die Wochenzeitung. Auf Spiegel online hieß es einen Tag zuvor gar: »Für die GDL geht es jetzt um Sieg oder Untergang.«

Was war geschehen? Die Bahn hat der Gewerkschaft der Lokführer (GDL) ein neues Angebot unterbreitet, es aber, entgegen allen Gepflogenheiten, vorab der Presse verraten. Von 13 Prozent Lohnsteigerung ist die Rede, was sich zunächst gut anhört; tatsächlich aber unterscheidet sich das Angebot kaum von den 4,5 Prozent, die die Bahn mit den Konkurrenzgewerkschaften der GDL, der Transnet und der GDBA, im Sommer ausgehandelt hat. De facto erhalten die Lokführer nur acht Prozent mehr Lohn – jene 4,5 Prozent zuzüglich höherer Zulagen und einer verbesserten Entgeltstruktur. Auf die 13 Prozent kommt ein Lokführer nur dann, wenn er seine Wochenarbeits­zeit um zwei Stunden erhöht.

Das Angebot der Bahn beinhaltet weder eine Verringerung der Arbeitszeit noch eine signifikante Steigerung des Grundgehalts. Und vor allem: Es handelt sich nicht um einen eigenständigen Tarifvertrag, den die GDL so dringend will, sondern um einen Abschluss im Rahmen des Tarifwerks, in dem sich auch die Transnet und die GDBA bewegen.

»Eine Mogelpackung« hat das der sichtlich gereizte GDL-Vorsitzende Manfred Schell genannt. Die nächste Eskalationsstufe könnte also eingeleitet werden: ein unbefristeter Streik im Personen- und Güterverkehr. Aber, verkehrte Welt! Denn ab dem 3. Dezember verhandeln die Bahn und die GDL wieder, und zum ersten Mal seit Beginn des Arbeitskampfes vor sieben Monaten wähnt sich der Bahnvorstand im Vorteil. Es scheint, als bekäme die Bahn die GDL da zu packen, wo sie am stärksten ist: Ihre eigene Organisationsmacht steht der Gewerkschaft nun im Weg.

Denn die GDL hat, weil sie es sich wegen ihrer Geschlossenheit und der Kampfbereitschaft ihrer Mitglieder leisten kann, einen äußerst disziplinierten Arbeitskampf geführt. Eben das sollte ihre Stärke demonstrieren: Wir können auch ganz anders, aber aus Rücksicht vor »der Wirtschaft«, »den Kunden« und »der Nation« treten wir dem Gegner lieber nur vors Schienbein und brechen ihm nicht gleich die Knochen.

Das Resultat ist nicht nur ein schier endlos ausgedehnter Konflikt; jede weitere Eskalation erscheint vor diesem Hintergrund als Zumutung und könnte von der bislang mit der GDL sympathisierenden Bevölkerung als Anmaßung verstanden werden. Die GDL hat durch ihre Taktik das Feld der erträglichen Zumutungen selbst abgesteckt und läuft Gefahr, dieses bei einer weiteren Weigerung zu verhandeln zu übertreten. Denn, so scheint es: Die Bahn zeigt sich ja einsichtig! Und macht ein Angebot, das auf dem Papier üppig aussieht und von der Bahnsprecherin Margret Suckale dargestellt wird, als würde es den Lokführern den direkten Weg ins Paradies weisen. Wie schnell sieht da ein weiterer Streik wie ein hässlicher Egotrip aus!

Als Vorteil Mehdorns erweist sich die Forderung der GDL nach einem eigenständigen Tarifvertrag. Sie hat sich auf diese Forderung versteift: Weil sich die Lokführer im gemeinsamen Tarifwerk nicht aufgehoben sehen, scheren sie aus und wollen künftig nur für sich verhandeln. Das radikalisiert die GDL, aber ihr Risiko, als kleine Spartengewerkschaft unter die Räder zu kommen, steigt ebenso: Bleibt sie hartnäckig, könnte sie sich selbst ins Abseits der öffentlichen Meinung manövrieren und mittelfristig finanziell ruinieren. Nimmt sie ein Angebot wie das aktuelle an, kehrt sie in die Tarifgemeinschaft mit Transnet und GDBA zurück, ihre Eigenständigkeit wäre dahin. Der Vorsitzende der Transnet, Norbert Hansen, lässt keinen Zweifel daran, dass er in der GDL keinen gleichwertigen Partner sehen will. »Sie möchten (…) grundsätzlich keine Rücksicht mehr nehmen auf alle übrigen Beschäftigten«, kritisiert er im Interview mit dem Deutschlandradio. »Und das kann ja nun wirklich nicht sein, dass man in einem Unternehmen, wo es sehr wichtig ist, (…) dass die Tätigkeiten Hand in Hand gehen, dann zu grundsätzlich (…) unterschiedlichen Tarif­regelungen kommt. Das schafft Unkollegialität und dient nicht dazu, im Sinne des Kunden ein optimales Dienstleistungsergebnis zu erbringen.«

Womit mal wieder beweisen ist, dass die mieseste Hetze gegen Arbeiter im Zweifelsfall von den Gewerkschaften kommt. Dann nämlich, wenn diese sich in ihrer Organisationsstruktur und Verhandlungsposition von dem Handeln der Arbeiter unter Druck gesetzt sehen. Hansen drischt auf die GDL ein, aber er meint den Eigensinn der Lokführer. Passend dazu haben sich die Transnet und die GDBA am Donnerstag voriger Woche auf ein neues Bezahlungssystem geeinigt. Bis Ende 2010 sollen alle Beschäftigten mindestens zehn Prozent mehr Geld bekommen, sagte Mehdorn. Mit der Struktur habe sich für die GDL eine Möglichkeit eröffnet, in Verhandlungen über Entgelte und Arbeitszeiten für Lokführer ein­zutreten. Er gehe davon aus, dass die Tarifeinheit im Konzern dadurch erhalten werden könne.

Was Mehdorn und seine Anhänger von Transnet, SPD und DKP nicht können: den Kampfeswillen der Lokführer brechen. Aber das muss er auch nicht. Denn diese haben nolens volens ihren Kampfwillen an die GDL delegiert. Und diese kann Mehdorn beschädigen, indem er sie mit einem scheinbar verführerischen Angebot vor eine höchst anangenehme Wahl stellt. Mehdorn kann jetzt taktieren: noch mehr Lohn anbieten, aber den eigenständigen Tarifvertrag verweigern; diesen zugestehen, dafür aber die Lohn- und Arbeitszeit-Forderungen der Lokführer weiter stutzen. Er kann hart bleiben und neue Streiks provozieren, Streiks, die der Öffentlichkeit unter Umständen immer schwieriger zu vermitteln sind. Auf die Sympathie der Öffentlichkeit muss die GDL hoffen, denn eine Solidarität der Arbeiter gibt es – vordergründig! – nicht. Hansen wird wohl alles daran setzen, »seine« Arbeiter weiterhin gegen die Lokführer zu positionieren. Wobei: Hinter vorgehaltener Hand hört man von zahlreichen Übertritten von der Transnet zur GDL.

Oberflächlich betrachtet stellt sich der Konflikt anders dar: Jetzt geht es nicht mehr um weniger Arbeit und mehr Geld, sondern um die Zukunft der GDL. Diese Verkehrung ist nicht Resultat einer diabolischen Strategie der Bahn. Die Bahnstrategie kehrt nur nach außen, was im Ablauf eines gewerkschaftlich organisierten (gebändigten) Arbeitskampfs angelegt ist: dass die Gewerkschaften sich als die tätigen Subjekte setzen, dass ihre Aufgabe das Verhandeln ist, ihr Ziel die Anerkennung als gleichwertige Partner in der Tarifgemeinschaft. Dafür ist jede Gewerkschaft bereit, sich an die Spielregeln zu halten. Die gegenwärtigen Regeln hat Mehdorn am Montag voriger Woche verkündet.

Sicher, die GDL wird sich einmal mehr kämpferisch geben – und natürlich: Sie soll herausschlagen, was nur geht. Aber nirgendwo steht geschrieben, dass, wer kämpferisch ist, automatisch die Spielregeln verletzt. Er will sie halt zu seinen Gunsten auslegen. Nicht weniger, aber auch nicht mehr.