Bild dir einen Weltgeist

Jagger, Bismarck, Hegel, Kohl, Diekmann. Der Chefredakteur der Bild-Zeitung hat die Achtundsechziger besser verstanden, als manchen lieb ist. Cord Riechelmann über den »Großen Selbstbetrug«

She is blond or she is brown or she is black. Dementsprechend ist she entweder hot oder cold. Mehr ist she in der Lyrik der Rolling Stones nie. Den Mangel dieses Denkens hat Kai Diekmann wie kein Zweiter in diesem Land verstanden. Deshalb ist es erst einmal zu begrüßen, wenn sich Diekmann in seinem gerade erschienenen Buch »Der große Selbstbetrug« auch der Achtundsechziger-Bewegung kritisch zuwendet. Es kommt so nämlich zusammen, was zusammengehört.

Die Achtundsechziger-Bewegung, wenn man sie mal so gegen alle nachträglich auftretenden Zersplitterungen ihres Geistes auf einen Nenner bringen will, hat als letzte Bewegung hierzulande versucht, ein spirituelles Harmoniebedürfnis durchzusetzen. Die eigenen Orgasmusprobleme – I can’t get no satisfaction – oder allgemeiner gesagt: Bedürfnisse und die der Gesellschaft wie ihrer Institutionen sollten schließlich und endlich eins und das gleiche werden. Das heißt, es ging damals wesentlich darum, eine universelle, alle körperlichen und geistigen Ausprägungen von Individuum und Gesellschaft durchziehende Präsenz des Harmoniebedürfnisses gegen die konkreten Antagonismen der kapitalistischen Produktionsweise und ihrer gesellschaftlichen Organisation zumindest im Be­wusst­sein des »gesellschaftlichen Individuums« (Marx) wachzurufen. Und die Achtundsechziger erkannten mit ihrem Gespür für symbolische Produktion ganz richtig ihren einzigen ernst zu nehmenden Konkurrenten bei ihrem Vorhaben, ihren Geist symbolisch in der Gesellschaft präsent zu machen, in der Massenpresse des Springer-Verlags. Sie haben früher als die bürgerlichen Gesellschaftskritiker erkannt, dass die halbalphabetische Massenpresse in den entwickelten westlichen Industrieländern zum entscheidenden Ort der geistigen Präsenz geworden war.

Aus diesem »tief romantischen Zugriff auf die Welt« sind, so Diekmann auf der letzten Seite seines Buches, »einige schöne Gedichte entstanden, einige große Songtexte«. Diekmann fasst diese Zeilen unter der letzten Kapitelüberschrift in seinem Buch zusammen: »Lob der Achtundsechziger«.

Das ist natürlich alles andere als ein Achtundsechziger-Bashing. Es ist eine viel genauere Beschreibung der Intentionen von damals, als sie etwa gerade der Stern geliefert hat.

Denn überall, wo Diekmann in Deutschland hinblickt – und gemäß dem Auftrag seiner Zeitung schaut er überall mal vorbei –, sieht er nichts als Führungsschwäche. Überall wird gezaudert, statt dass selbstbewusst entschieden wird, überall herrscht murrender deutscher Kleingeist, statt dass zum ganz großen Wurf ausgeholt wird. Wir sind schließlich wer in der Welt, Exportweltmeister zum Beispiel, und seit der WM 2006 auch noch Weltmeister der Herzen. Nur muss man angesichts der Wirklichkeit Diekmanns fragen: Ist das denn überhaupt so? Ist er Chefredakteur der Bild-Zeitung, weil er führungs- und meinungsschwach ist? Nein, natürlich nicht, er ist Chefredakteur, weil er den Willen zum Herren beherrscht wie Moltke oder Bismarck und deshalb auf den Werbebildern zu seinem Buch auch immer so verbiestert und freudlos in die Welt sehen muss wie Bismarck oder Moltke auf ihren Porträts. Es fehlt der Bild-Zeitung ja vieles, ein entwickelter Geistbegriff zum Beispiel, aber eines bestimmt nicht: Führungsmentalität. Nur – und das ist mit Sicherheit das Interessanteste an Diekmanns Buch – ist er sich bei aller gefühlten Bedeutung seiner Person nicht sicher, ob er nicht eines Tages genauso in der Bedeutungslosigkeit versinken kann, wie er es schon bei vielen anderen in »seinem« Konzern gesehen hat, wenn er den Ton seiner Chefs nicht mehr trifft.

Und diese seine Chefs, die kann auch Diekmann nicht mehr greifen und personalisieren, wie es seine Zeitung jeden Tag mit den Verhältnissen versucht. Und da wird er schlicht zum Symptom und macht das, was viele andere auch wollen und wenige dann auch tun, er schreibt ein Buch über seine Seelenlage.

Und die schwankt dann unbedacht zwischen seiner offensiven Herrenmentalität und seiner gefühlten Knechtsubjektivität, auf die er sich selbst mit dem Buch vorzubereiten scheint. Diekmann kommt, auch weil er als Chefredakteur der Bild-Zeitung noch nie etwas anderes gesehen hat, aus der Dialektik von Herr und Knecht nicht heraus. Weil er andauernd selbst auf den Putz hauen muss, wenn ihn im eigenen Haus mal einer kritisiert hat, spürt er seine eigenen Grenzen nur zu deutlich. Ohne Knechte ist sein ganzes Leben lächerlicher als alles, was er in seinem Buch unter Vokabeln wie »Gutmenschen« meint bloßstellen zu können. Und weil er um seine Bedürftigkeit nach dem Knecht weiß, verfällt er andauernd und gegen bessere Einsicht in eine mehr oder weniger gelungene Mimesis des Knechtes, damit der Knecht bloß nicht auf die Idee kommt, Diekmann könne ihn nicht mehr brauchen. An den besten Stellen seines Buches blitzt etwas von seiner eigenen Einsicht in diese Unzulänglichkeit auf. »Denn Politiker«, schreibt er, »sind nur so schlecht, wie wir es zulassen.«

Aus dem Munde eines ganz real mächtigen Journalisten klingt dieses »Wir« etwas wirr. Denn wer, wenn nicht Diekmann bzw. die Kräfte, die Diekmann hervorbringen und sehr gut bezahlen, lässt hierzulande Politiker zu? Wichtig seien nur das Fernsehen und die Bild-Zeitung, soll Gerhard Schröder am Anfang zum Leidwesen der Qualitätszeitungen gesagt haben. Und er wird gewusst haben, wovon er spricht. Diekmanns Schwierigkeit geht vor diesem Hintergrund allerdings noch einen Schritt zurück: Er hat schlicht den Totalitätsbegriff seines Lehrers Helmut Kohl, der ihn von Hegel entlehnt hat, nicht verstanden.

Diekmann gehört zu jenen Zöglingen Kohls, die der große Mann gern in seiner Nähe hatte und die er eben gemäß seines Totalitätsbegriffs nicht nur in seiner Partei suchte, sondern eigentlich überall. So wie Weltpolitik für Kohl seine Freunde Felipe González, François Mitterrand und Michail Gorbatschow waren, so war Deutsch­land für ihn der kleine Kreis seiner »Freunde« im Lande, zu denen Diekmann als noch nicht mal 30jähriger gestoßen war. Bei Kaminabenden mit Diekmann führ­te Kohl dann exklusiv in das Arkanum der Politik ein und entwarf die großen Linien der Zukunft, die zwar nicht immer auf dem Boden der Tatsachen blieben, aber trotzdem die uneigennützige Neuregelung der Autobahntankstellen in der ehemaligen DDR im Auge behielten. Diekmann muss das tief beeindruckt haben, denn in seinem Buch wird Kohl immer noch gegen die eigennützigen Manager von heute, die nur abzocken ob des eigenen Vorteils willen, als Gegenbild ins Feld geführt. Kohl habe zwar auch Schwarzgeld genommen, aber nie zu eigenen Zwecken. Kohl behielt immer das große Ganze im Auge, hat aber vermutlich auch Diekmann nie alles erzählt, und das wiegt Diekmann in Unsicherheit.

Wem die Trias aus Kohl, Hegel und Diekmann zu weit hergeholt ist, dem sei einer der besten Texte Hermann L. Gremlizas empfohlen, in dem er vor ein paar Jahren feststellte, dass Kohl der Weltgeist sei.

Kohl war wirklich das konkrete Sein der Totalität im Sinne Hegels, nämlich als Synthese aus der Identität mit sich selbst und seiner Negativität, dem Widerspruch gegen Margaret Thatcher.

Bei Diekmann ist von Kohls Vertrauen in das Vernünftige der Wirklichkeit nur die deutsche Nationalmannschaft geblieben. Außer Klinsmann und Co. ist ihm Deutschland abhanden gekommen. Selbst die konservative und wirtschaftsfreundliche FAZ, die er genauso gern zitiert wie den Spiegel und Jürgen Habermas, ist nicht richtig auf Deutschland-Linie. Wenn irgendwo ein Atommeiler leckt, macht die FAZ sofort den Betreiber verantwortlich. Wen sonst, könnte man fragen, aber bei Diekmann ist das die falsche Frage. Denn, so versichert er an einer anderen Stelle, Leute mit Wollpullover und »Atomkraft, nein danke«-Button seien ihm lieber »als die vielen Achselzucker mit Sylt-Aufkleber am Auto«. Trotzdem muss er sofort losschimpfen, wenn er nur in die Nähe eines Windkraftrades kommt.

Und eben weil er ausdauernd wie die Stones denselben Song mal gegen sich selbst, mal gegen die Welt singt und nie genau weiß, ob er jetzt aus der Position des Herren oder des Knechtes singen soll, fühlt sich das Gehirn nach der Lektüre wie nach einem Stones-Konzert an. Nur dass man sich nicht mal mehr sicher ist, ob she jetzt hot oder cold war.

Kai Diekmann: Der große Selbstbetrug. Piper, München 2007, 16,90 Euro, 240 Seiten