Haftzeit ohne Lichterketten

Im Fall zweier Kurden aus Deutschland verletzt die türkische Justiz sämtliche Rechtsgrundsätze. Anders als im Fall Marco interessiert das hierzulande aber kaum jemanden.

Mehmet Bakir war einmal Berlin-Korrespondent der türkischen Kulturzeitschrift Güney. 22 Jahre hat er in Deutschland gelebt, ist mit einer Deutschen verheiratet und stand kurz vor der Einbürgerung. Seit seiner Verhaftung im Juli 2002 darf er die Türkei nicht verlassen. Am 6. Dezember trat er nun eine Haftstrafe im Hochsicherheitstrakt Edirne an.

Die absurde Geschichte begann im Sommer 2002 während eines Urlaubs in der Türkei. Zusammen mit dem nun bereits seit fünf Monaten im Hochsicherheitstrakt von Alanya inhaftierten Deutschen Mehmet Desde und fünf weiteren Freunden wurde er im Badeort Kusadasi verhaftet, weil ein Zivilpolizist gemeldet hatte, sie hätten am Strand konspirative Pläne geschmiedet. Die Polizei stand unter Fahndungsdruck, da kurz zuvor in der nahe gelegenen Stadt Izmir Flugblätter der »Bolschewistischen Partei Nordkurdistan-Türkei« aufgetaucht waren. Alle inhaftierten Männer stammten aus Tunceli, einem Zentrum der türkischen und kurdischen Linken, in dem sich Linke und Rechte vor dem Militärputsch 1980 gewalt­same Auseinandersetzungen lieferten. Bakir und Desde sind beide Kurden aus Tunceli. Die Väter stammen aus der ersten nach Deutschland emigrierten Generation so genannter Gast­arbeiter.

Desde und Bakir wurde vorgeworfen, Gründer und »leitende Mitglieder« der Organisation zu sein und sich im Land zu befinden, um ein militärisches Ausbildungscamp zu organisieren. Da es keine Beweise für diese Vorwürfe gab, versuchte die Polizei, Geständnisse zu erzwingen. Nach der Festnahme wurde ihnen verweigert, die deutsche Botschaft sowie ihre Verwandten zu benachrichtigen. Die Polizisten verlangten eine Unterschrift unter bereits vorgefertigte Geständnisse. Als die beiden sich weigerten, wurden sie schwer misshandelt. Erst nach vier Tagen wurden die beiden Festgenommenen dem Haftrichter vorgeführt. Bakir wurde entlassen, gegen Desde erließ das Gericht einen Haftbefehl, er verbrachte die nächsten vier Monate in einer Einzelzelle des Hochsicherheitstraktes von Buca bei Izmir.

Für Bakir war die Freiheit allerdings von kurzer Dauer. Einige Tage nach seiner Freilassung, als er nach Berlin zurückfliegen wollte, wurde er in Istanbul auf dem Flughafen erneut verhaftet. Diesmal wurde auch gegen ihn ein Haftbefehl erlassen, das Gericht ging von Flucht­gefahr aus. Nach sechs Monaten wurden Desde und Bakir aus der Untersuchungshaft entlassen, gegen beide wurde eine Ausreisesperre verhängt.

Erst dann begann ein langwieriger Rechtsweg. Während des Prozesses stellte sich heraus, dass gegen sie keinerlei Beweise existierten, außer einer später widerrufenen Zeugenaussage, dass die beiden im Auto über ein »Camp« gesprochen hätten. Auch über die Organisation »Bolschewistische Partei Nordkurdistan-Türkei« gibt es kaum Informationen. Bekannt war sie bis dahin nur durch das Verteilen von Flugblättern, keine Gewalttaten gingen zu Lasten der Gruppe. Das Gericht beschloss daher während des Prozesses, dass es sich um eine »ideologisch staatsfeindliche«, aber nicht »gewaltbereite« Organisation handle. Trotzdem wurden die beiden jeweils zu 50 Monaten Freiheitsstrafe und 5 000 Euro Geldstrafe verurteilt.

Im April 2004 hob der Kassationshof in Ankara das Urteil von Izmir auf. Da inzwischen aufgrund von EU-Reformen die berüchtigten Staatssicherheitsgerichte abgeschafft worden waren, verhandelte nun das zivile Landgericht die Revision. Das Gericht verurteilte die Angeklagten zwar nicht mehr wegen »leitender«, aber wegen »einfacher« Mitgliedschaft, die Strafe für beide wurde auf 2,5 Jahre Haft reduziert. In letzter Instanz bestätigte die neunte Kammer des Kassationsgerichtshofs das Urteil im April.

Mehmet Desde erhielt bald darauf die Aufforderung zum Haftantritt. Seit Mai sitzt er im Gefängnis im Ferienort Alanya. Doch anders als im Fall des Schülers Marco W. schert sich kaum jemand um sein Befinden. Desde war lange in der »Stiftung für Menschenrechte«, einem renommierten Behandlungszentrum für Folter­opfer in Izmir, in Behandlung. Er ist psychisch instabil und leidet an chronischen Magenbeschwerden, seine Familie lebt in Landshut, bis zu seiner Inhaftierung hatte er dort als Krankenpfleger gearbeitet. Er hofft, nach Deutsch­land abgeschoben zu werden. Mehmet Bakirs Ehe ist an der langen Trennung gescheitert, sein Aufenthaltsstatus in Deutschland unklar.