Multitude in Unterzahl

Zerstrittene Teile der Linken wieder zusammenzubringen, ist ein nahezu unmögliches Unterfangen. Mit dem Kongress »No way out?« in Frankfurt wurde der Versuch unternommen. von daniel keil

Es klang beinahe wie die Suche nach der revolutionären Weltformel. Die zerstrittene Linke zu einer Diskussion über grundlegende Kategorien der Gesellschaftsanalyse zusammenzubringen, ist bekanntlich schon ein schwieriges Unterfangen. Erst recht ist es die Suche nach gemeinsamen »Möglichkeiten für eine emanzipatorische Praxis«, um, wie es im Einladungstext hieß, »einen möglichen way out zu bestimmen«.

Unter dem einladenden Titel »No way out? (Post)Operaismus bis Wertkritik« fand am vergangenen Wochenende in Frankfurt am Main der Kongress des Bündnisses » … ums Ganze!« statt. Bereits Monate zuvor hatte sich, aus den angedeuteten Gründen, eine kontroverse Debatte über Thema und Konzeption des Kongresses entwickelt. Geladene Gäste aus den verschiedenen linken Grüppchen, die der Kongress vereinen sollte, kritisierten das Verhältnis der Organisatorinnen und Organisatoren zu Theorie und Praxis von verschiedenen Seiten. Stephan Grigat vom Café Critique beispielsweise bemängelte die fehlende Beschäftigung mit Israel, während die Redaktion Exit ihre Absage unter anderem mit der »verschwommenen Praxisorientierung« und der Behandlung der Geschlechterverhältnisse als »Sonderpunkt Feminismus« und »Nebenwiderspruch« begründete. Man durfte also gespannt sein, wie es um Anspruch und Wirklichkeit auf dem Kongress bestellt sein würde.

An Möglichkeiten fundierter Vorbereitungen mangelte es nicht im Studierendenhaus der Universität Frankfurt, dem Ort des Geschehens, bot der am Infotisch erhältliche Reader zum Kongress neben den Ankündigungstexten und Ab­stracts zu den Referaten doch auch eine Erläuterung der Marxschen Basiskategorien aus der freien Enzyklopädie Wikipedia. Der aushängende Raumplan musste bereits frühzeitig überarbeitet werden, da die Veranstalterinnen und Veranstalter offensichtlich von der großen Zahl der Interessierten überrascht wurden. Am Freitag wurden 350, am Samstag 500 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus den unterschiedlichsten linken Gruppen und Initiativen gezählt. Nimmt man die Aufkleber auf den Toiletten als Maßstab, so schienen die Mitglieder von Antifagruppen aus dem gesamten Bundesgebiet in der Überzahl zu sein. Der unerwartete Ansturm brachte die entscheidenden Nachteile mit sich, dass das vorhandene Essen am Freitag recht frühzeitig ausverkauft und die wenigen gemütlichen Sitzgelegenheiten in der »Chill-out-Lounge« ständig besetzt waren. Aber man war ja schließlich nicht zum Ausruhen dort.

Die Organisatorinnen und Organisatoren wiesen gleich bei der Begrüßung darauf hin, dass der Kongress als »Work in progress« zu betrachten sei, was sich in seinem Verlauf bestätigen sollte. Denn zu den bereits vorliegenden Absagen kamen weitere hinzu, so dass einige Podien kurzfristig umorganisiert werden mussten. Auch wurde der Anspruch, wesentliche Fragen der Linken inhaltlich klären zu wollen, etwas bescheidener, auf das »Anstoßen eines Klärungsprozesses« reduziert.

In was für einer gesellschaftlichen Situation befinden wir uns, und was heißt das für unser Handeln? So ungefähr lautete die zentrale Frage. Um eine theoretische Grundlage zu schaffen, sollte Nadja Rakowitz in die Kritik der politischen Ökonomie einführen, Robert Foltin in den Post­operaismus und Norbert Trenkle in die Wertkritik. Sowohl Rakowitz als auch Trenkle beschäftigten sich in ihren Einführungsreferaten ausgiebig mit der Analyse des Antisemitismus, wobei Rakowitz die verschiedenen Fetischformen verhandelte und Trenkle sich auf Moishe Postone bezog.

Bereits in der Beschreibung dieser Grundkategorien zeigte sich der große Unterschied zum Postoperaismus, der die Klassenkämpfe in Form der »Multitude« als Ausgangspunkt und gleichzeitig als positiv-optimistischen Bezugspunkt nimmt. Foltin verteidigte gerade das Diffuse der postoperaistischen Begriffe als Stärke und erntete dafür viel Kritik aus dem Publikum. Deutlich wurde auf diese Weise nicht zuletzt, welche Teile der Linken in Frankfurt zahlreicher vertreten waren. Allerdings wurde nach Foltins Vortrag erstmals gegen das in den Gängen herrschende Rauch­verbot verstoßen. Ob dies unmittelbar mit seinen Ausführungen zum Kampf gegen Normierung zusammenhing, muss an dieser Stelle ungeklärt bleiben.

Am Samstag, als es darum gehen sollte, das Verhältnis zwischen Theorie und Praxis zu klären, fehlten die Postoperaisten wegen der erwähnten kurzfristigen Absagen bei einigen Veranstaltungen. So reduzierte sich etwa ein Podium zu »immaterieller Arbeit«, einem genuin postoperaistischen Terminus, der auch die immer noch meist von Frauen geleistete Reproduktionsarbeit umfasst, zu einer Diskussion über Open Source und freie Software. Infolgedessen ging nicht zuletzt die gesamte Kritik an den Geschlechterverhältnissen, die in dieser Terminologie verhandelt wird, verloren.

Gestritten wurde vor allem über die Forderungen nach einem Existenzgeld und globalen sozialen Rechten und darüber, was radikale Linke damit zu schaffen haben. In der Podiumsveranstaltung zu Staat, Recht und Politik etwa argumentierte die eine Seite, dass die Forderung nach globalen sozialen Rechten ein »diskursives Feld« eröffne und die Kämpfe darum mit einer »Aneignungspraxis« verbunden seien. Die andere Seite kritisierte dieselbe Forderung als eine Form des Staatsfetischs. Stattdessen müsse man »die Form des Rechts und der Politik« kritisieren. An dieser Stelle hätte eine längst überfällige Debatte einsetzen können – doch polemisierte das Podium vor allem an den Argumenten der Befürworterinnen und Befürworter vorbei.

Dieser recht grundsätzliche Dissens wurde in der Abschlussdiskussion am Sonntag über »Theorie und Bewegung« nicht wieder aufgegriffen. Auch die in den Wochen vor dem Kongress geäußerte Kritik fand keine Erwähnung, nicht einmal im einzigen inhaltlichen Beitrag der Veranstalterinnen und Veranstalter.

»Wir würden beim nächsten Mal vieles anders machen«, sagte einer von ihnen im Gespräch mit der Jungle World. Dennoch zog er ein überwiegend positives Fazit. Er betonte, dass »Diskussionen in Gang gekommen« seien und man es geschafft habe, viele Fragen zu stellen, die einer weiteren Bearbeitung bedürften. Die Weltformel bleibt also bis auf weiteres Sache der Physik.