Tote machen länger Urlaub

Wie man einen Spaghetti-Western mit den Augen eines Deutschen sieht. Über das Album der Dead Men on Holidays. Von John Miller

Das erste, was amerikanischen Hö­rern am Album der Dead Men on Holidays auffallen dürfte, sind die Texte, insbesondere die Art, wie sie der Sänger und Songschrei­ber der Band, Frank Lutz, singt. Alle Lieder sind in englischer Sprache geschrieben, aber angesichts der vom Deutschen modulierten Feinheiten in der Wortwahl und der Aussprache wird es sofort klar, dass sie nicht aus britischer oder amerikanischer Quelle stam­men. »Na und?« könnten Sie sich fragen. Englisch wird eben häufig als Zweitsprache gesprochen. Der Punkt ist, dass durch die Tatsache, dass Lutz das Songschreiben als Dichter angeht, der genaue Charakter der Sprache eine Kategorie dessen wird, um was es den Dead Men on Holidays künstlerisch geht. Obwohl Titel wie »Long and Gravel Road« oder Zeilen wie »this luck in their eyes« sehr wohl Sinn ergeben, könnte kein englischer Muttersprachler jemals auf solche Schöpfungen kommen. Das verleiht den Texten etwas Treffendes und Ergreifendes, ähnlich wie manche Konstruktionen bei Abba wie: »Queen of the dancing floor!« (Hier die vollständige Enthüllung: Lutz überprüft häufig die Grammatik eines neuen Songtextes mit mir, bevor er vollendet wird.)

Einerseits vermeiden es die Dead Men on Holidays in aller Schärfe, sich selbst als Kraut-Rock oder Deutsch-Pop einzuordnen, zuallererst natürlich dadurch, dass sie nicht auf Deutsch singen. Andererseits spielt die Band bewusst mit der Frage der deutsch-amerikanischen Identifikation, obwohl sie ihre Einflüsse beinahe ausschließlich aus der amerikanischen Musik und Kultur bezieht.

Die Band hat zum Bespiel unter ihrem vorherigen Namen Blood on the Honky-Tonk Floor einen Fototermin an einem Ort namens »Town Old Texas«, in der Berliner Siemensstadt gelegen, abgehalten, einem Nachbau einer amerika­nischen Grenzstadt zur Pionierzeit. Zu einer anderen Gelegenheit hat die Band auf der Veran­da des Berliner Künstlerhauses Bethanien gespielt, die der österreichische Künstler Richard Hoeck nach dem Vorbild einer Veranda gestaltet hatte, die in John Fords Film »The Searchers« auftaucht. (Vor einigen Jahren hat ein ominöser Brand »Town Old Texas« zerstört. Diesem Vor­fall gedenkt Lutz in den Schlusszeilen des Stückes »Black Leather White«.) Auf dieser Platte deutet Lutz eher unterschwellig eine amerikanisch-deutsche Wechselbeziehung an, indem er seine Texte mit Zitaten verziert. In »Mr. Brown« hat Lutz zum Beispiel die Zeile »no wheel to my wagon, still I’m rolling along« des Schriftstellers und Übersetzers Arno Schmidt verwendet. Schmidt hat u.a. Edgar Allan Poe ins Deutsche übersetzt und sein Hauptwerk »Zettels Traum« in Gestalt eines Kommentars zu Poes Werk geschrieben.

Seit den Tagen von Blood on the Honky-Tonk Floor hat sich die stilistische Bandbreite der Band deutlich erweitert. Diese Veränderung ist bedeutsam. Da sie sich freimütig bei R’n’B, Gospel, Motown, Rockabilly, Soul, Lounge und Film­musik bedient, bezeichnet Lutz die Dead Men on Holidays nicht länger als Countryband. Insgesamt lässt sich der eklektische, lässige Funk der weißen Männer am ehesten mit dem von Cake vergleichen. Zu anderen Musikern, die die Band beeinflusst haben, zählen Al Green, Lee Hazlewood, The Ventures, Merle Haggard, Isaac Hayes, Burt Bacharach und Ennio Morricone. Der Verweis auf die Filmmusik in den neuen Kompositionen hebt die Rolle des Stils als Repräsen­ta­tion hervor in dem Sinn, dass die Repräsen­­tation etwas Geschaffenes ist. Seltsam genug, wurde Lutz ausgerechnet in dieser Hinsicht inspiriert, als er eine Oper von Wagner mit dem ehe­maligen Pianisten der Band, Johannes Sauer, hörte. Ihm wurde klar, dass das »Gesamtkunstwerk« Wagners schließlich im Film seinen Ausdruck findet. Nicht sonderlich überraschend ist aber, dass der Film Noir, nicht der (überragen­de) Aben­teuerfilm, den Ton für die Dead Men on Holidays vorgibt.

Wenn Songs die Sache der Dead Men on Holidays sind, dann wird durch die Beschwörung des Films jeder auf diesem Album zu einem Sze­nario. Der Film Noir steht selbstverständlich in enger Verbindung zur Hard-boiled-Prosa, und Literatur ist für Lutz ebenso wichtig wie Musik und Film. Hier zählen unter anderem James Cain, Jim Thompson und Hubert Selby Jr. zu den Referenzen. Während jeder Song ein Stück romantischer Fiktion ist, verschmelzen enthaltene Details zu einer erkennbaren Oberfläche des Alltagslebens. »Back in my truck, I still hear your voice, the smell of perfume«, heißt es da. Oder: »Under my front seat, I’ve got a very heavy monkey wrench«. Oder: »Was it a stray cigarette (…) that burned Old Town Texas down?«

»Mr. Brown«, das erste Stück des Albums, beginnt mit einer fatalistischen Klavierfigur und einem metronomischen Schlagzeug, die sich schnell in einem mitreißenden Arrangement aus weiblichem Chorgesang und »progressiven« Gitarrenriffs verlieren. Allerdings geht es in diesem Song vor allem um die verdrängte Erotik in der Arbeitswelt. »Business as usual«, »cash on delivery«, »what’s in it for me?« »Would I only have a little bit more time«, klagt Lutz und wiederholt dabei das Wort »time« dreimal. Hier scheinen der Text und die Musik wirklich das Vergehen der Zeit zu beschreiben.

Normalerweise setzen Frank Lutz und Carsten Maaske, der Leadgitarrist und Arrangeur der Band, ihre Songs entweder aus passing tones in komplizierten Akkordfolgen zusammen oder aus Akkordkaskaden, die aus einer einzigen Ton­­leiter stammen. Das zweite Stück des Albums entspricht diesem fließenden Ansatz, der allerdings von repetitiven, fast mechanischen Funk-Riffs der Gitarre aufgebrochen wird. »Dead Men on Holidays« (Tote auf Urlaub), der Titel dieses Stücks und zugleich der Name der Band, zitiert den sozialistischen Journalisten und Staats­mann Kurt Eisner, der als Anführer der Novemberrevolution von 1918 die bayrische Monarchie stürzte und 1919 von dem Studenten Anton Graf von Arco auf Valley erschossen wurde. Traurige aphoristische Bemerkungen skizzieren die trübe Stimmung dieses Stücks: »Nothing succeeds like success; we go separate ways« oder »Nothing but despair can save us«. Der letzte Satz ist Theodor W. Adorno entlehnt, der ihn seinerseits bei Christian Grabbe fand, einem antisemitischen Satiriker, den Heinrich Heine einmal einen »betrunkenen Shakespeare« nann­te. Diesen Aphorismen stellt Lutz eine kurze Litanei aus Berufsbezeichnungen entgegen, einen Mikrokosmos, der womöglich an August Sanders soziale Typologie erinnern soll: »the poet, the engineer, the undertaker (…). There goes my baby!«

»Black Leather White« beginnt mit einer ängst­lichen Gitarrenfigur im Stil der Ventures, die bald in einen Anfall von Paranoia ausbricht. »I thought I saw (…) I thought I saw the light«, singt Lutz. Dann ändert sich die Stimmung und es wird für kurze Zeit ruhig: »There’s a change in the ocean, in the deep blue sea.« Aber die Ruhe vergeht bald wieder. »You’ll see a change in me«, knurrt Lutz. Damit ist wohl kaum eine Veränderung zum Besseren gemeint. Eine übersteuer­te Wahwah-Gitarre, das Geräusch von Peitschen­hieben und dämonisches Gegacker machen den Instrumentalbreak in diesem Stück besonders bemerkenswert.

Die Dead Men on Holidays wenden sich dann solch geschmacklosen Themen wie dem Rodeo­ringer Sputnik Monroe zu, bevor das Album in einem überraschend lyrischen Tonfall endet. »Hold Back Your Love« zeigt den unverbesserlichen Zyniker in zärtlicher Stimmung. Inmitten eines Arrangements, das von einer traurigen Orgel beherrscht wird (wie in »A Whiter Shade of Pale« von Procol Harum), singt er: »Some­times a kiss can’t satisfy my mind.« Aber dieses Gefühl scheint keinen Adressaten zu haben. Von wem wird er geküsst? Und wenn ein Kuss ihm manchmal keine Zufriedenheit schenken kann, dann ist das offenbar zu anderen Zeiten ganz anders. Wenn es geht, geht es halt, aber es gibt keine Garantien. Und obwohl Lutz der geliebten Person dazu rät, ihre Liebe zurückzuhalten, verlangt es ihn doch ganz offensichtlich nach mehr.

Im Vorwort zu seinem Roman »Doppelte Abfindung« schreibt James M. Cain: »Ich habe mich nie darum bemüht, hart, abgebrüht oder unerbittlich zu sein, obwohl die Leute mich dafür hal­ten. Ich versuche nur, so zu schreiben, wie die Romanfigur schreiben würde, um die es gerade geht. Ich habe nie vergessen, dass der Durchschnittsmensch, wie er auf den Feldern und den Straßen, in den Kneipen, den Büros und sogar in der Gosse anzutreffen ist, sich eine Lebendig­keit der Sprache angewöhnt hat, die über alles hinausgeht, was ich erfinden könnte. Und wenn ich mich an diese Erbschaft halte, an den Geist des amerikanischen Landlebens, werde ich mit sehr geringer Anstrengung das Maximum an Wirkung erreichen.«

So ähnlich könnte Lutz es auch gesagt haben, obwohl er an einem anderen Ort zu einer anderen Zeit arbeitet. Doch die Stimmungskurve dieses Albums deutet auf eine seltsame Absicht: das alltägliche Leben auf seiner untersten Stufe auszuprobieren, ohne auf das glückliche Ende verzichten zu müssen. Aber vielleicht ist das gar nicht so seltsam.

Dead Men on Holidays: Dead Men on Holidays. Velocity Sounds/Alive