Es war einmal das große Kuscheln

Mit der Forderung nach »Erziehungscamps« sollen die konträren Prinzipien des Erziehens und des Strafens im Jugendstrafrecht miteinander verbunden werden. Wie man sich solche Einrichtungen vorzustellen hat, weiß niemand, und dass sie jugendliche Gewalttäter auf den rechten Weg bringen, darf getrost bezweifelt werden. von stefan krauth

Eine Vielzahl kruder kriminalpolitischer Vorschläge ist gemacht worden, seit ein 17jähriger Grieche und ein 20jähriger Türke Ende Dezember in der Münchner U-Bahn einen Rentner zusammenschlugen, auf ihn eintraten und ihn schwer verletzten. Die einen fordern die schnellere Abschiebung von jugendlichen »Intensivtätern« ohne deutschen Pass, die anderen, weil sich das Problem grausamer Gewalttaten auf diese Weise offenbar nicht gänzlich aus der Welt schaffen lässt, eine Verschärfung des Jugendstrafrechts, wahlweise mit oder ohne die Einrichtung von »Erziehungscamps«.

»Ausländerkriminalität war viel zu lange ein Tabu in Deutschland«, behauptete der Vorsitzende der Bundestagsfraktion der CDU und der CSU, Vol­ker Kauder, und dem vermeintlichen Tabubruch folgte konsequent die populistische Forderung: »Kriminelle Jugendliche brauchen kein Multikulti­gesäusel, sondern einen Warnschuss vor den Bug.« Auch die CSU-Generalsekretärin Christine Haderthauer kennt sich mit den Jugendlichen bestens aus: »Wenn Sie sich diese Täter anschauen, dann sind das keine Menschen, die Sie mit Erziehung erreichen.« Und der hessische Minister­präsident Roland Koch (CDU) sieht politisch korrekte Nachsicht vor den Jugendgerichten walten: »Wer die Regeln verletzt, (…) darf nicht glauben, dass er mit dem Argument seines Alters und seines Migrationshintergrundes auf mehr Verständ­nis stößt.« Der Münchner Oberbürgermeister Chris­tian Ude (SPD) will da nicht hintanstehen. Dem Bayerischen Rundfunk sagte er zwar, dass Staatsanwaltschaft und Polizei die Tat als Mordversuch werteten, zeige, dass die Justiz keine Ratschläge benötige. Einen Ratschlag erteilte er aber doch und forderte die Verurteilung der beiden Täter nach dem Erwachsenenstrafrecht.

Der Vorschlag, die Höchststrafe im Jugendstrafrecht von bislang zehn auf 15 Jahre Haft anzuheben, wird vor allem von Mitgliedern der Union befürwortet. Aber Udes Idee, das Jugendstrafrecht bei Heranwachsenden (18- bis 20jährigen) nur noch in Ausnahmefällen anzuwenden, taucht regelmäßig in der Debatte auf. Es werde darüber diskutiert, ob »zum Schutz der Bevölkerung jetzt weitere Verschärfungen« nötig seien, sagte ein Regierungssprecher. Die Kanzlerin sprach konkret von »Warnschussarrest« und »Erziehungscamps«.

Bislang werden auch Heranwachsende vor dem Jugendgericht angeklagt. Das Gericht wendet das Jugendstrafgesetzbuch dann an, wenn die Persönlichkeit des Angeklagten sich noch auf der »Rei­festufe« eines Jugendlichen befindet oder die Tat als typische Jugendverfehlung einzuschätzen ist. Warum ausgerechnet die häufigere Anwendung des Erwachsenenstrafrechts den »Schutz der Bevölkerung« verbessern sollte, kann freilich niemand schlüssig beantworten. Die Stimme der Ver­nunft bleibt den Richtern vorbehalten. »Die Formel härtere Strafen gleich höhere Abschreckung gleich weniger Straftaten ist schlicht falsch«, sagte der Vorsitzende des Richterbundes, Christoph Frank.

Es geht darum, sich mit populistischen Forderungen wechselseitig zu überbieten und ungestüm Verschärfungen zu fordern. Den vergleichsweise besonnenen Politikern der SPD wirft der Wahlkämpfer Roland Koch eine »Totalblockade« vor. Wer sich gegen Verschärfungen ausspricht, hängt nach dieser Logik einem weltfremden Erziehungsideal nach.

Bei all dem scheint der Eindruck vorzuherrschen, das Jugendstrafrecht sei kein Strafrecht, sondern allein »Verständnispädagogik«, deren Anwendung bei Jugendlichen »Hohngelächter« (Kauder) hervorrufe. Ein genauerer Blick widerlegt die Mär von der Harmlosigkeit des Jugendstrafrechts. Dass darin der Erziehungsgedanke eine wichtige Rolle spielt, ist weder staatlicher Schwäche noch Milde geschuldet, sondern dem Interesse des Staats an der Herstellung verwertbarer Untertanen. Und die zwangsweise staatliche Erziehung ist nicht selten einschneidender als der bloße Vollzug der Freiheitsstrafe. Das verpflichtende Erziehungsziel des Jugendstrafvollzugs definiert das entsprechende baden-württembergische Gesetz aus dem Jahre 2007 etwa folgendermaßen: »Die jungen Gefangenen sind in der Ehrfurcht vor Gott (und) in der Liebe zu Volk und Heimat (…) zu erziehen.«

Gleichzeitig aber erwartet der Mob die Bestrafung der Täter, um die erschütterte Ordnung bestätigt zu sehen – und um seine Lust am Strafen zu befriedigen. Im Jargon der Rechtswissenschaft wird von der »Bewährung der Rechtsordnung« gesprochen, die durch die Strafe erfolge. Vor nunmehr rund 100 Jahren hat die damals noch junge Wissenschaft der Kriminologie diesen Konflikt der Kriminalpolitik erkannt. Es setzte sich die Erkenntnis durch, dass die Gefängnisstrafe die Gefangenen in ihrer kriminellen Karriere noch bestärkt.

Was also tun? Strafen, um die Rechtsordnung zu bestätigen, oder umerziehen, um brauchbare und angepasste Untertanen zu gewinnen? Die sozialdemokratische Antwort auf die widersprüch­lichen Anforderungen war die Einführung des Jugendstrafrechts in der Weimarer Republik. Junge Täter galten als empfänglich für Besserung durch Behandlung, während bei erwachsenen Tätern am traditionellen Verständnis der Strafe festgehalten wurde. Der Nationalsozialismus hielt am Erziehungsgedanken des Jugendstrafrechts fest. In einem Richterbrief vom November 1943 hieß es anlässlich der Einführung des neuen Jugendstrafrechts: »Jugend führen heißt Jugend erziehen.«

Der Ruf nach der Einführung von »Erziehungscamps« entspricht der Forderung, Erziehung mit Strafe zu verbinden. In den auf strenge Disziplin ausgerichteten Lagern wird nicht nur Erziehung, sondern zugleich das Zufügen eines strafähnlichen Übels gesehen. Als Vorbild hierfür gelten oft die so genannten boot camps in den USA. Die nach militärischem Muster errichteten Lager können von jugendlichen Ersttätern als Alternative zur Gefängnisstrafe gewählt werden. Wer den Drill übersteht, dem wird die Strafe erlassen. Ziel ist die vollständige Unterwerfung unter die paramili­tärische Einrichtung und die damit einhergehende Auslöschung der Persönlichkeit, um sie – so der sozialtechnologische Traum – anschließend neu zu formen. Dieses Vorhaben fordert die totale Auslieferung der Insassen an das Erziehungskonzept der Ausbilder. Übergriffe und Miss­handlungen sind programmiert.

Ein Bericht des amerikanischen Kongresses vom Oktober 2007, der der Jungle World vorliegt, dokumentiert exemplarisch den Tod von zehn Jugendlichen in den privat geführten Erziehungslagern. Dem Bericht zufolge ließ man Jugendliche hungern und dürsten, sie wurden gezwungen, ihr Erbrochenes zu essen und sich in den eigenen Exkrementen zu wälzen. Ein Junge war derart dehydriert, dass er vor seinem Tod Schmutz aß. Floridas Gouverneur Jeb Bush schloss im Juni 2006 alle dortigen boot camps, nachdem ein 14jähriger von seinen Ausbildern zu Tode geschun­den worden war.

Die Untersuchungen zur Rückfallquote der in derartigen Lagern Behandelten konnten den Einrichtungen keine Erfolge bescheinigen. Ebenso wenig kann das Gelingen der Erziehung unter Zwang grundsätzlich belegt werden.

In Hamburg nahm die Staatsanwaltschaft Ermittlungen auf, als bekannt wurde, dass Jugendliche in einer geschlossenen Einrichtung rechtswidrig mit Psychopharmaka ruhiggestellt worden waren.

Egal, die CDU fordert die Einrichtung von »Erziehungscamps«. Was genau darunter zu verstehen sein und worin der Unterschied zu den schon bestehenden geschlossenen Erziehungseinrichtungen liegen soll, weiß niemand. Denn demütigen will man den Nachwuchs doch lieber nicht, und die Menschenrechte sollen auch geachtet werden. Wichtig scheint allein, den Eindruck zu vermitteln, die Politik sei nicht tatenlos. Wer keine Ahnung hat, tut sich mit markigen Sprüchen hervor. Zumindest was ihre Großmäuligkeit angeht, haben Koch & Co. mit den »Intensivtätern« etwas gemeinsam.