This is Doug Cass singing

Der letzte Cowboy kommt nicht aus Gütersloh, sondern aus dem kleinen kanadischen Städtchen Abbotsford, und verwirklicht im ­Internet seinen Traum, Musiker zu sein. Der 80jährige Doug Cass ist der heimliche Karaoke-Country-Star bei Youtube. von ivo bozic
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Bisher hat er 87 Videos ins Internet gestellt. Und sie alle zeigen ein durchgängiges ästhetisches Konzept, das durch minimale Abweichungen zur Attraktion wird. 87 Mal sieht man darauf dieselbe bunte Decke mit Pferde-Motiv im Raum hängen. Dann tritt jemand hinter der Decke hervor, ein alter Mann mit Brille und Stetson-Cowboyhut. Es ist Doug Cass, und um dies von Anfang an klarzustellen, beginnt auch jedes seiner 86 Videos so: »This is Doug Cass singing … « Dann läuft unsichtbar das Karaoke-Band ab, und Doug Cass stimmt ein, brüchig, holprig, leise, während er, den Teleprompter lesend, etwas hilflos auf eine ganz eigene Art mit den Händen in der Luft rührt. Zum Schluss bedankt er sich bei seinen potenziellen Zuschauern, »thank you«, und tritt hinter die Pferde­decke, um an seinem Computer die Aufnahme zu beenden, was man manchmal, wenn die Decke etwas verrutscht ist, beobachten kann.

Das erste Video erscheint am 13. Oktober 2006 bei Youtube. »Folsom Prison Blues« von Johnny Cash – Doug Cass mit Stetson, Brille und einem marineblauen Hemd. Es ist sein Lieblingssong, wie er mir später erzählen wird. Bereits am nächs­ten Tag lädt er das zweite Video mit dem Lied »Tequila Makes Her Clothes Fall Off« hoch, Doug Cass trägt diesmal ein weißes Hemd. Noch am selben Tag folgt das dritte Video (»Turn it On Turn it Up Turn Me Loose«). Doug Cass muss sich zwischendurch umgezogen haben, denn nun trägt er wieder sein blaues Hemd mit einem dunkelblauen Pullunder darüber. Jetzt beginnt eine Phase, die man als die Blaue-Pullunder-Periode bezeichnen könnte. Mehr als 40 Mal erscheint er mit demselben Outfit vor seiner Pferdedecke. Seit dem Mai vorigen Jahres allerdings verzichtet Doug Cass auf den Pullunder, nur einmal noch, am 7. Oktober, überrascht er seine Fans, mich, mit einem bis dahin nie gesehenen grauen Pullunder. So, als wolle er sich in ironischer Absicht selbst zitieren.

Man kann also das Werk des Doug Cass in Frühwerk, Pullunder- und Post-Pullunder-Phase einteilen, und man darf gespannt sein, wie es weitergeht. Denn kurz nachdem ich erstmals Kontakt mit ihm aufgenommen und ihm mitgeteilt habe, ich wolle einen Artikel über ihn schreiben, stellt er ein neues Video ins Netz, das ein wenig die Konventionen verletzt: Cass erscheint zwar wie gewohnt mit seinem schwarzen Stetson, dazu aber trägt er einen schwarzen Anzug und ein Bolotie (eine Cowboykrawatte), ist also ganz der Man in Black, sehr schick, und er singt den »Hockey-Song«, eine kanadische Stimmungshymne, die dann doch ein paar Takte zu schnell ist für ihn. Und dann folgen ein paar Tage darauf noch drei Videos im selben Outfit. Womöglich der Beginn einer neuen Schaffensphase. Die schwarze Periode. Ist das schon das Spätwerk?

Doug Cass ist 80 Jahre alt, und er wirkt alles andere als selbstbewusst vor seiner Pferde­decke, aber allein die Tatsache, dass er diese Videos veröffentlicht, beweist das Gegenteil. Dass er Mitgliedsausweise für einen Fan Club hat anfertigen lassen ebenso. Denn mehr als 587 Mal, eine für Youtube ausgesprochen niedrige Zahl, wurde noch keines seiner Videos angeklickt. Die meisten haben gerade mal zehn bis 30 Klicks, und davon dürften jeweils nicht wenige von mir sein. In Abbotsford aber ist Doug eine kleine Berühmtheit, ein Lokalblättchen namens The Neighbourhood Bugel nannte ihn einmal den »locally-renowned karaoke singer«. Denn in der Karoake-Bar »Highwayman Neighbourhood Pub« in der Simon Avenue tritt Doug Cass etwa drei Mal die Woche öffentlich auf.

Hier im Stadtzentrum, rund um das Rathaus, gibt es ein paar vereinzelte Hochhäuser. Ansonsten ist Abbotsford aber ein sehr beschauliches Städtchen mit 129 000 Einwohnern im Südwesten Kanadas, genauer im Fraser Valley, British Columbia. Keine vier Kilometer sind es vom Südrand der Stadt bis zur US-Grenze, wenn man den Sumas Way im Osten nimmt. Mehr als 1 100 Farmen gehören zur Gemeinde. Jede Menge Parks und Grünflächen durchziehen Abbotsford, ein wunderschöner See, der Mill Lake, liegt mitten in der Stadt neben dem Einkaufszentrum, drumherum fast ausschließ­lich Einfamilienhäuser. Und das alles eingebettet in die herrlichste Landschaft. Denn Abbotsford liegt genau zwischen dem aus den Rocky Mountains kommenden Fraser River, der bei Vancouver, gar nicht weit von hier, in den pazifischen Ozean mündet, im Norden und dem Trans Canada Highway im Süden. Fährt man den Highway weiter Richtung Osten, erreicht man hinter dem Golf-Club bald das Indianerreservat »Upper Suma 6«, wo rund 180 Angehörige der »First Nations« leben. Nördlich des Fraser Rivers: nur Berge, Wälder, Seen. Über der Stadt thront majestätisch der Mount Baker, ein 3 200 Meter hoher Vulkan mit einem eisbedeckten weißen Gipfel.

In dieser idyllischen Kulisse aus Mountains, Rivers and Highway muss man vermutlich Coun­trymusik lieben. Aber man könnte auch schlechte Countrymusik lieben, die gibt es zuhauf. Aber Doug Cass mag nur die Besten, die Coolen, nur die haben bei ihm eine Chance: Johnny Cash, Willie Nelson, Merle Haggard, Toby Keith. Die Rocker unter den Country-Stars.

Vielleicht ist Cass kein begnadeter Sänger, vielleicht sind seine Auftritte und seine Videos mehr als amateurhaft, vielleicht wirkt das auf den ersten Blick eher traurig, weil ein alter einsamer Mann sichtbar zu werden scheint, der in seinen letzten Lebensjahren seine Erfüllung in etwas sucht, das er nicht wirklich beherrscht, und dennoch, oder auch deswegen, weil er es einfach macht, weil es ihm wichtig ist und man das sehen, nein, sogar spüren kann, verstrahlt Ol’ Doug eine Würde, einen Stolz, eine Leidenschaft, die das Publikum, da, wo er eines findet, fasziniert. Seit langem bin ich Fan.

Als ich Doug Cass anschreibe, erhalte ich zunächst eine E-Mail über seinen Youtube-Account zurück: »Hello Ivo, I just checked my responses. Thank you very much. These are all Videos but I can sell you Audio CD’s that you can play in your car or the videos if you cannot download them. I would charge you $ 20 for each Audio-CD consisting of ten songs that you pick out from songs on youtube that you like. If you would like information on me please advise and I will send it to you. Yours truly, Doug Cass.« Trotz dieser eher geschäftstüchtigen Antwort bin ich begeistert, persönlich Post von meinem Internet-Idol erhalten zu haben. Vom letzten Cowboy, irgendwo aus einem Nest in Kanada.

Dann wird unsere Korrespondenz intensiver. Doug schickt mir einen Artikel über sich aus dem Lokalblättchen Friday! Magazine, um den ich ihn gebeten habe, und er erzählt ein wenig aus seinem Leben. Etwa, dass er eigentlich nicht aus Abbotsford stammt, sondern aus der kanadischen Prärie, genauer aus Regina, Saskatchewan. Vor seiner Verrentung war er Elektrotechniker und baute Alarmanlagen in Häuser ein, 40 Jahre lang. 40 Jahre, die ihm irgendwie die Zeit für das Wesentliche geklaut haben, die Musik.

»Nachdem ich in Rente ging, beschloss ich, meine Gesangskarriere auszubauen«, schreibt mir Cass, die Erfindung von Karaoke habe ihm das erheblich erleichtert. Die Texte erscheinen auf dem Bildschirm, der Sound kommt vom Band. Cass muss nur noch lossingen. Gesungen hat er bereits früher, als Teenager. Zusammen mit seinem Cousin, der Gitarre spielte, ist er in Regina in kleinen Clubs aufgetreten. In der Highschool fing er an, Songs zu schreiben. Doch dann kamen die 40 Jahre Alltag dazwischen, die seiner Musikerkarriere, oder sagen wir: seiner Leidenschaft, im Weg standen. Verheiratet war er auch, seine zwei Söhne und seine Tochter sind bereits erwachsen und haben selber Kinder. Heute ist Cass geschieden und lebt allein mit seiner Katze.

Im März 2005 scheint sein Leben bereits fast zu Ende zu sein. Ein schwerer Verkehrsunfall. »The lady driver t-boned my vehicle on the drivers side«, berichtet Cass. Er trägt diverse Knochen- und Rippenbrüche und eine durchbohrte Lunge von dieser unseligen Begegnung auf einer Kreuzung in Surrey, in der Nähe von Vancouver, davon. Es dauert Monate, bis er wieder soweit genesen ist, dass er ohne Hilfe laufen kann. »Der Arzt hat mir gesagt, ich könne froh sein, lebendig aus diesem Unfall herausgekommen zu sein, und dass jemand da oben mich beschützt haben muss. Jemand, der der Meinung ist, ich habe noch etwas zu erledigen, bevor meine Zeit gekommen ist.« Dass Cass daraufhin intensiv seine Musikerkarriere in Angriff nimmt, könnte man also wahlweise als die Folge eines göttlichen Auftrags oder ärztlichen Rats begreifen. Vor allem aber ist es Doug Cass’ innigstes Bedürfnis. Gerade auch die Auftritte in der Karaoke-Bar beflügeln ihn: »Das Publikum feuert mich an, und ich fühle mich gut, vor allem wenn einige von ihnen zu mir kommen, sich für meinen Auftritt bedanken und mir die Hand schütteln.« Manchmal muss er sich jedoch mit den Karaoke-DJs anlegen, denn für seine dünne Stimme ist der Sound oft zu laut.

Zunächst begann er, seine Musik auf Audio-Kassetten aufzunehmen, später auf CD. Um auch das Internet zu erobern, musste sich Cass erst einen neuen Computer zulegen, denn sein alter hatte einen Prozessor mit weniger als einem Gigabyte, außerdem brauchte er eine Web-Cam. Cass: »Du kannst dir vorstellen, dass ich ziemlich herumexperimentieren musste, bis ich soweit war, Videos hochladen zu können.« Computerversierte Freunde halfen ihm dabei.

Die Auswahl der Songs wirkt manchmal so, als wolle Cass sein Elektrotechniker-Leben retrospektiv zu einer Desperado-Draufgänger-Vita zurechtbiegen. Aber selbst, wenn dies ein selbstgefälliger Blick zurück auf ein vielleicht nicht immer gar so konsequentes Cowboyleben sein sollte, spätestens durch sein Werk als Musiker hat er sich diese Lebensgeschichte mit jedem Respekt verdient. Auch Johnny Cash hat in Reno keinen Mann erschossen. »I walk the Line«, »Wild Side Of Life«, »Ring of Fire« von Cash, »The Bottle let Me Down« von Merle Haggard, »Old Dogs and Children and Watermelon Wine« von Tom T. Hall, »As Good As I Once Was« von Toby Keith, »Bad Timing« von Blue Rodeo. Lauter große Songs!

Als er im Juni den »Cocaine Blues« von seinem Idol Cash singt, sieht man die Pferdedecke länger als gewohnt ohne ihn, Cass erscheint erst in letzter Sekunde vor der Kamera und bringt in der Hektik ein bisschen was durcheinander: »Johnny Cash singing Cocaine Blues by Doug Cass.« Auch den Takt findet er nicht, aber – er hat es wieder mal gemacht, und darauf kommt es an. Und irgendwie wirken die Songs, gerade die Texte, doppelt bedeutungsvoll, wenn Cass sie singt – schon allein dadurch, dass er sie singt, weil er sie unbedingt singen will, und aus keinem anderen Grund. Ich höre mir die Cass-Versionen inzwischen lieber an als die Originale.

Besonders rührend ist sein Auftritt mit »Much too Young« von Garth Brooks. Die Pferdedecke hängt diesmal reichlich schräg, Doug braucht vor der Decke stehend ein paar Sekunden, bis ihm der Name des übrigens fast halb so alten Garth Brooks einfällt, und dann holpert er dem Karaoke-Band hinterher wie einem davoneilenden Traum: »This ol’ highway’s getting longer / Seems there ain’t no end in sight / To sleep would be best, / But I just can’t afford to rest / I’ve got to ride in Denver tomorrow night // I called the house but no one answered / For the last two weeks no one’s been home / I guess she’s through with me, to tell the truth I just can’t see / What’s kept the woman holding on this long // And the white line’s getting longer and the saddle’s getting cold / I’m much too young to feel this damn old / All my cards are on the table with no ace left in the hole / I’m much too young to feel this damn old.«

In diesem und wirklich nur im übertragenen Sinne: Hut ab, Ol’ Doug!

Das Gesamtwerk von Doug Cass findet sich bei

youtube.com: www.youtube.com/profile_videos?user=Dougxyz