Von Hackordnung und Hahnenkampf

Wo es Menschen gibt, gibt es auch Hühner. Nicht artgerechte Haltung macht die Tiere aggressiv und erhöht die Gefahr, dass sie Krankheiten auf Menschen übertragen. von cord riechelmann

Hühner können in den verschiedensten Formen in Erscheinung treten: als Nahrungsmittel (Chicken wings, Coq au vin oder Broiler), als Nahrungspro­duzenten (Eier), als Gladiatoren (Kampfhähne) oder als Metapher (Gockel, Chicks, Hackordnung). In den vergangenen Jahren sind Hühner mit der so genannten Vogelgrippe aber auch als bedrohliche Produzenten von Krankheitskeimen ins Gerede gekommen. Die auch für Menschen gefährliche Variante des Vogelgrippevirus H5N1 entwickelte sich nach allem, was man bisher weiß, in den Hühnerfarmen Asiens. Zur weltweiten Bedrohung für Menschen könnte der bislang zum Glück auf Hühner und anderes Geflügel als Wirt angewiesene Virus auch deshalb werden, weil es keinen von Menschen besiedelten Flecken mehr gibt, an dem es nicht auch Hühner gibt.

Hühner sind damit sozusagen globalisiert. Das aber war ein Prozess, der bereits mit der Domestizierung der ersten Hühner begann. Wo immer Menschen in der geschichtlichen Zeit neue Inseln oder Länder entdeckten und besiedelten, hatten sie meist Hühner dabei. Die schmackhaften Vögel waren leicht zu transportieren und zu züch­ten, und die Aggressivität zumal der Hähne bot von jeher die Möglichkeit zu »spannendem« Zeitvertreib bei Hahnenkämpfen. Wann genau die ersten Wildhühner gezähmt und der Grundstock für die heute universelle Verbreitung in mannigfaltiger Form – vom Bresse-Huhn bis zur Batterie­henne – gelegte wurde, wird sich nicht mehr feststellen lassen. Sicherer ist in letzter Zeit nur der Entstehungsort geworden: Mutmaßlich wurde das Haushuhn in Indien und nicht, wie oft erzählt wird, in China kreiert.

Interessant ist das besonders für Frühhistoriker. Die Handelswege der frühen Hochkultur zwischen den Flüssen Indus und Ravi, in der das Huhn domestiziert wurde, könnten sich aus dem ersten Nachweis von Haushühnern in anderen Regionen wie in Persien, Kreta und Phöni­zien rekonstruieren lassen. Die Verbreitung des Haushuhnes könnte so Aufschluss über die weitreichenden Handelsbeziehungen im dritten Jahrtausend vor Christi Geburt geben.

Bereits früh entwickelte sich eine Beziehung zwi­schen den Handelswegen und der Verbreitung des Huhns. Hühner begleiten den Welthandel schon immer, oder, philosophischer gesagt: Das Haushuhn ist der ins Tier eingeschriebene Welthandel. Ähnliches gilt für Hahnenkämpfe und Legehennen. Wobei Hahnenkämpfe das perverse Pendant zur so genannten Legehenne sind. Beide, Hahnenkämpfe wie Hühnerfarmen, basieren näm­lich auf einer frühen und totalen Trennung der Geschlechter.

Die widernatürliche Verweigerung des Zugangs zum anderen Geschlecht von klein auf bringt auf der einen Seite erst die Aggressivität hervor, die die Hähne für den Kampf prädestiniert. Auf der anderen Seite, der der Hennen, ermöglicht sie die Umfunktionierung des Tiers zur Legebatterie und die Haltung in Käfigen auf engstem Raum, die überhaupt nichts mehr mit den Bedürfnissen der Tiere zu tun haben. Dass sich die Diskussionen um die »artgerechte Haltung« im Rahmen der Festlegung der rechtlichen Bestimmungen für die Unterbringung von Hühnern zurzeit vor allem um die Abmessungen der Käfige drehen, hat so wenig mit den besonders in Vogelgrippephasen beschworenen vorbeugenden Maßnahmen zu tun, dass sich ein Blick auf die Geschichte des Huhns lohnt, um greifbar zu machen, was an den derzeitigen Methoden der Hühnerzucht und ‑haltung falsch ist.

Es ist nämlich weder neu, dass Hühner zur Quelle gefährlicher menschlicher Krankheiten werden können, noch ist der Wissenschaft un­bekannt, wie Hühner gern leben beziehungsweise wie sie sich, wenn man sie lässt, entwickeln. Die befürchtete Mutation des Vogelgrippe-Erregers H5N1 zu einem von Hühnern unabhängigen, allein unter Menschen übertragbaren Erreger hat nämlich einen Vorläufer: die Malaria tropica. Der mit der Malaria tropica am engsten verwand­te Erreger wurde in Hühnern gefunden. Und die Übertragung des ersten Hühnermalaria-Erregers auf Menschen wird durch das enge Zusammen­leben von Hühnern und Menschen in den Häusern der Bauern begünstigt worden sein. Wie Enge überhaupt nicht nur in der Beziehung zwischen verschiedenen Arten, sondern auch innerhalb derselben Art die Entstehung und Ausbreitung von Krankheiten begünstigt.

Für eine ernstgemeinte Prophylaxe, die der Mutation wie der Verbreitung der Vogelgrippe vorbeugen will, kann daraus nur folgen, die Geflügelfarmen ganz abzuschaffen. Damit hätte man nicht nur den Entstehungsort von H5N1 trockengelegt, man könnte sich auch darauf konzentrieren, der Frage nachzugehen, wie Hühner eigentlich zu halten sind, um ihnen das Recht zum schönen Leben wiederzugeben.

Da es H5N1 nun aber schon einmal gibt und da der Virus, wie bisher jeder Virus irgendwann, den Weg aus seinen Entstehungsorten in die weite Welt bereits gefunden hat, folgt daraus für den Umgang mit Hühnern, jeden unnötigen Kontakt mit ihren Körperflüssigkeiten zu meiden. Und der einfachste Weg etwa den bei Hahnenkämpfen unweigerlich anfallenden Blutspritzern aus dem Weg zu gehen, ist der, Hahnenkämpfe abzuschaffen. Was auch deshalb nicht falsch wäre, weil artgerecht gehaltene Hähne sowieso nicht in dieser Form kämpfen würden, was ein Blick auf die Geschichte der Hühneraggressionsforschung zeigt.

Als Thorleif Schjelderup-Ebbe nämlich gelernt hatte, die Hühner auf dem Hof seiner Mutter zu unterscheiden, machte er eine Entdeckung. Die Hennen lebten in einer strengen Ordnung. Sie hackten in absteigender Reihe aufeinander ein. Angriffe von unten nach oben kamen nicht vor. Der letzten Henne blieb nichts anderes, als in Aus­einandersetzungen häufiger den Kopf zu schütteln oder sich zu putzen. Schjelderup-Ebbe leuchtete dieses Prinzip so ein, dass der Zoologe die »Hackordnung« in seinem 1922 in der Zeitschrift für Psychologie erschienenen Aufsatz »Beiträge zur Sozialpsychologie des Haushuhns« für universell wirksam erklärte.

Mit Schjelderup-Ebbes Entdeckung war aber natürlich noch nicht geklärt, ob die Dominanzhierarchie und die Aggressivität der Hühner Folgen ihrer Haltungsbedingungen sind oder sich erfahrungsunabhängig etablieren. Die wildleben­de Stammform der Haushühner, das Bankiva-Huhn, sollte darüber Aufschluss geben. Bankiva-Hühner ziehen auf der Suche nach Futter am Boden scharrend durch die Urwälder Südostasiens. Etwa eine Stunde vor Sonnenaufgang meldet der Hahn der Gruppe krähend ihre Anwesenheit. Andere Hähne hält er damit auf Distanz. Den Hennen gibt er so das Signal zum Aufbruch und die Gewissheit, dass keine Gefahr droht.

Da Bankiva-Hühner nicht in festgelegten Territo­rien leben, muss der Hahn den ganzen Tag über immer wieder geeignete Orte aufsuchen, um die Wanderterritorien zu markieren. Hähne stehen deshalb ein Drittel des Tages ohne sichtbare Tätig­keit nur herum, während die Hennen wandern, scharren oder picken. Zu Streitereien, die auf eine Hackordnung hinweisen, kommt es dabei nur sehr selten. Die Samen und kleinen Insek­ten, die sie fressen, sind so reichhaltig über den Urwaldboden verteilt, dass Konkurrenzkämpfe um Futter nicht nötig sind. Kommt es trotzdem zu Kämpfen, können die Hühner schon an schein­bar nutzlosen Bewegungen ablesen, wer sich zurückziehen wird. Pickt ein Huhn besonders schnell und häufig in Richtung Boden, ohne Futter aufzunehmen, wird es demnächst das Feld räumen. Das setzt aber nicht nur eine feine Wahrnehmung der Handlun­gen des Gegenübers voraus, sondern auch, dass dessen Bewegungen verlässlich berechenbar sind.

Die Entwicklung des aggressiven Verhaltens der Bankiva-Hühner vollzieht sich in unterschiedlich motivierten Entwicklungsstadien. Wenn die Küken, die sofort nach dem Ausschlüpfen der Henne hinterherlaufen und selbständig fressen, etwa zehn Tage alt sind, stoßen sie beim Hüpfen gelegentlich mit anderen Küken zusammen. Ein paar Tage später schon springen sie immer häufi­ger andere Küken gezielt an. Kämpfen und wachsender Bewegungsdrang bedingen sich in dieser Phase. Nach drei Wochen fangen sie an, auf­einander einzupicken. Hungrige Küken tun das öfter als satte. Aggression und Hunger beeinflussen sich so stark, dass bloßes Picken bei anderen Küken bereits Fluchtreaktionen auslösen kann.

Die gekoppelten Motivationen lösen sich im Verlauf der Entwicklung teilweise wieder. Bei sechs Monate alten Hühnern gibt es keine Beziehungen mehr zwischen Bewegungsdrang und Kampfbereitschaft, während die zur Nahrungsaufnahme bestehen bleiben. Was sie bekämpfen und wie die Kämpfe verlaufen, wird allerdings entscheidend durch die soziale Umgebung bestimmt. Isoliert aufgezogene Küken kämpfen mehr als in Gruppen großgewordene, und wenn sich nichts anderes findet, das sich bewegt, sogar gegen den eigenen Schwanz. Und zehn Monate lang isoliert gehaltene Hähne sind so gestört, dass Phasen panischen Fluchtverhaltens unvorhersehbar von Perioden extremer Aggressivität abgelöst werden.

Die so genannte Hackordnung der Hühner, als Metapher wahrscheinlich eines der erfolgreichsten biologischen Modelle der neueren Zeit, resultiert also weitgehend aus den von Menschen gemachten Haltungsbedingungen. Und die kann man ändern, zum Besseren hin. Das ist gesünder für die Hühner, aber auch für die Menschen.