»Der Antisemitismus in Venezuela geht von der Regierung aus«

Sammy Eppel, Journalist

Sammy Eppel ist Journalist und politischer Kolumnist für die größte venezolanische Tageszeitung, El Universal. Des Weiteren berichtet er regelmäßig für den Miami Herald und die World Press Review. Er hat vor allem durch seine scharfe Kritik am venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez und am Antisemitismus in Venezuela international Bekanntheit erlangt. interview: thilo f. papacek

In Ihren Artikeln beschuldigen Sie die Regierung von Hugo Chávez, Antisemitismus zu fördern. Was genau meinen Sie damit?

Die venezolanische Regierung besitzt oder beeinflusst viele Medien in Venezuela. Und die antisemitischen Äußerungen in venezolanischen Medien kommen ausschließlich von diesen staatsnahen Medien. Daraus schließe ich, dass diese antisemitische Propaganda von der Regierung unterstützt wird. Die jüdische Gemeinde hat sich bereits darüber beschwert. Aber die Regierung hat nie darauf geantwortet. Es gab 2006 in der Zeitung Diario de Caracas sogar einen Artikel, in dem gefordert wurde, die Juden aus Venezuela auszuweisen.

Die jüdische Gemeinde wird in diesen Medien beschuldigt, die Regierung unterwandern zu wollen. Dabei ist das Gegenteil der Fall. Die jüdische Gemeinde in Venezuela wird immer kleiner. Sie ist in den vergangenen Jahren von rund 30 000 auf ungefähr 15 000 Mitglieder geschrumpft. Ich sage aber nicht, dass das nur am Antisemitismus liegt, das hat auch andere, politische oder ökonomische, Gründe.

Welche Qualität hat dieser Antisemitismus? Richtet er sich gegen die jüdische Gemeinde in Venezuela oder bezieht er sich mehr auf die Vorstellung einer jüdischen Weltverschwörung?

Sowohl als auch. Manchmal ist er gegen unsere Rabbiner gerichtet, manchmal gegen die ganze Gemeinde. Manche Personen werden namentlich in den Medien der Verschwörung gegen die Regierung bezichtigt oder beschuldigt, sie würden planen, Chávez zu töten. Aber auch der Mythos der jüdischen Weltverschwörung ist sehr präsent. Immer wieder werden die CIA und der Mossad als eine einzige Organisation dargestellt. Mit der engen Allianz zwischen Ahmadinejad und Chávez wurde diese angebliche Verschwörung der Im­perialisten, Kapitalisten und Zionisten in den staatlichen Medien immer häufiger thematisiert.

Oft wird in diesen Medien dann behauptet, dass die jüdische Gemeinde in Venezuela den Mossad repräsentiere. Dabei gibt es auch Leute in der jüdischen Gemeinde, die Chávez unterstützen. Ich repräsentiere nicht die Meinung der jüdischen Gemeinde, das ist mir wichtig! Ich bin ein Journalist, ein politischer Kolumnist und ein beunruhigter Jude aus Venezuela. Aber ich kann sagen, dass ein großer Teil der jüdischen Gemeinde in Venezuela sehr beunruhigt ist, denn der Antisemitismus kommt von der Regierung. Wenn Gruppen antisemitische Propaganda betreiben, können wir uns wehren, man ist auf einer Augenhöhe. Aber wie sollen wir uns gegen die Regierung verteidigen? Sie hat alle Macht.

Wie äußert sich der staatliche Antisemitismus konkret?

Zweimal wurde unsere Gemeinde schon von den staatlichen Sicherheitskräften behelligt. Im November 2004 durchsuchte die Polizei unsere jüdische Schule in Caracas. Sie suchten angeblich nach Waffen. Natürlich fanden sie keine. Aber wie diese Aktion durchgeführt wurde, spricht für sich selbst: Der Richter unterschrieb die Anordnung zur Durchsuchung an einem Freitagmittag. Nun würde man annehmen, dass die Polizei sofort nach Waffen und dem Sprengstoff gesucht hätte, wenn tatsächlich eine Gefahr befürchtet worden wäre. Sie haben aber das ganze Wochenende gewartet. Erst am Montag um sieben Uhr haben sie die Durchsuchung begonnen, zu dem Zeitpunkt, als alle Kinder, rund 1 500 Schüler, gerade mit dem Bus ankamen. Sie durften die Busse nicht verlassen. Manche Kinder wurden für drei Stunden im Bus festgehalten. Die Polizei ließ die Eltern nicht in die Schule, um ihre Kinder abzuholen. Offensichtlich sollte Panik verbreitet werden. Das war für die jüdische Gemeinde sehr traumatisierend. Als Begründung wurde ein anonymer Tipp angeführt. Das ist auf keinen Fall verhältnismäßig.

Interessant ist auch, dass am gleichen Tag, als die Schule durchsucht wurde, Hugo Chávez in Teheran ankam. Als wollte er Mahmoud Ahmadinejad zeigen, wie er »seine« Juden behandelt. Das lese ich jedenfalls heraus. Das ist aber Spekulation.

Warum hat sich dann die jüdische Gemeinde vom Simon-Wiesenthal-Zentrum distanziert, als die Aussage von Chávez verurteilte, dass »diejenigen, die Christus umgebracht haben, noch immer die Welt regieren«?

Wir wollten den Konflikt nicht weiter schüren. Wir mussten uns erst einmal von dieser Durchsuchung erholen. Außerdem hat sich die jüdische Gemeinde natürlich bei Chávez erkundigt, was er denn mit seiner Aussage meine. Der Vizepräsident sagte dann, dass Chávez mit der Aussage die Imperialisten und die Kapitalisten meine, und nicht die Juden. Dennoch ist diese Aussage natürlich mit dem traditionellen Antisemitismus aufgeladen.

Es gab auch eine zweite Durchsuchung von jüdischen Einrichtungen durch die Polizei. Was passierte da?

Das war am 2. Dezember 2007 um Mitternacht, am Tag des Referendums über die Verfassungsreform. Das war gewiss kein Zufall. Bis jetzt haben wir aber noch nicht gehört, wie die Polizei das begründet. Diesmal versuchte die Polizei erst gar nicht, diese Aktion mit einem richterlichen Bescheid zu legitimieren. Diesmal ging die Aktion direkt vom Innenministerium aus. Sie durchsuchten einen jüdischen Sportclub und erneut die benachbarte Schule. Insgesamt waren 40 bis 50 Polizisten im Einsatz. Sie riegelten die Straße ab und durchsuchten den ganzen Komplex.

Was halten Sie vom stellvertretenden Innenminister, Tarik al-Aissami? In Ihren Artikeln beschuldigen Sie ihn, ein Antisemit zu sein und für die Durchsuchungen am 2. Dezember verantwortlich zu sein.

Ich denke, er ist derjenige, der die Durchsuchung veranlasst hat. Er ist im Innenministerium für die öffentliche Sicherheit zuständig. Das heißt, er ist persönlich für die Aktionen der Polizei verantwortlich. Ich halte ihn für einen gefährlichen Mann. Vorher war er für die Vergabe von Pässen verantwortlich. Ich bin mir sicher, dass er der kolumbianischen Guerilla Farc und islamistischen Terroristen venezolanische Pässe beschafft hat.

Glauben Sie, dass Tarik al-Aissamis Antisemitismus etwas mit seinem arabischen Hintergrund zu tun hat?

Nein. Es gibt in Venezuela eine große und gute arabische Gemeinde. Wir hatten nie Probleme mit den arabischstämmigen Venezolanern. Manche versuchen, diese Gemeinde zu radikalisieren, doch ich glaube nicht, dass dies gelingen wird.

Wie sieht das bei den anderen Venezolanern aus? Hat die antisemitische Propaganda Auswirkungen auf das Verhalten der nichtjüdischen Venezolaner gegenüber der jüdischen Gemeinde?

Nein, das glaube ich nicht. Die Venezolaner sind nicht grundsätzlich antisemitisch. Es gibt keine offene antisemitische Gewalt aus der Bevölkerung. Im Alltag spielt der Antisemitismus kaum eine Rolle. Die Venezolaner sind sehr offenherzig, wenn es darum geht, Immigranten zu integrieren. Das kann man nicht mit dem Antisemitismus in Europa vergleichen, wo aus der Bevölkerung immer wieder antisemitische Anschläge kommen.

Ein venezolanischer Student wollte am 23. Oktober 2006 in Caracas einen Bombenanschlag auf die US-Botschaft verüben. Dabei bezog er sich in Flugblättern auf die Hizbollah.

Für mich zeigt das, dass der Staat die Hizbollah unterstützt. Denn interessant ist, dass der Täter drei Tage lang auf der Polizeistation festgehalten wurde, ohne dass irgendjemand diesen Vorfall untersuchte. Warum? Um den Zellen Zeit zu geben, Spuren zu vernichten. Wo soll er seinen Sprengstoff hergehabt haben?

In den internationalen Medien war immer davon die Rede, dass er ein verwirrter Einzel­täter sei.

Klar, weil die Regierung will, dass das die Leute glauben!

Wie sieht denn die Situation bei den unabhängigen und oppositionellen Medien aus? Sie schreiben für El Universal und sprechen sich freimütig gegen Chávez aus. Das gleiche gilt für den Fernsehsender Globovisión. Sehen Sie diese Medien in Bedrängnis?

Die unabhängigen Medien machen gute Arbeit. Sie bieten eine andere Sicht. Aber sie sind im Hintertreffen gegenüber den staatlichen Medien. Nur die staatlichen Stationen erreichen mit direkter Übertragung die ganze Bevölkerung.

Aber Globovisión wird doch in Maracaibo, Mérida und Caracas direkt übertragen. Wie viel Prozent der Bevölkerung erreicht Globovisión?

Ungefähr 50 Prozent der Bevölkerung. Aber was man auch bedenken muss, ist, dass Pressefreiheit nicht nur bedeutet, dass man schreiben darf, was man will. Wenn man Korruption oder ähnliches aufdeckt, dann erwartet man, dass dies auch untersucht wird. Aber das tut die Regierung nicht. Wann immer die unabhängigen Medien etwas aufdecken, redet die Regierung von einer Verschwörung der Presse mit Kapitalisten, den Imperialisten, den Zionisten … So wird jede Kritik der Medien abgeschmettert.

In einem Ihrer Artikel haben Sie geschrieben, dass die Regierung »die moralischen, religiösen und ethischen Werte« zerstöre und damit »das Fundament einer freien Gesellschaft« vernichte. Was meinen Sie damit?

Wenn die Bande der Familie und der Religion vernichtet werden, so dass die Gesellschaft aus atomisierten Individuen besteht, dann sind diese Individuen anfälliger, in Massenbewegungen aufzugehen. Und genau das versucht die derzeitige Regierung Venezuelas durchzusetzen.