Größer als Ché

Wie kann es sein, dass alle über die Achtundsechziger reden, aber niemand über den Maoismus? Fast sämtliche Akteure jener Zeit haben sich zumindest zeitweise auf den Großen Vorsitzenden und die chine­sische Kulturrevolution bezogen. von felix wemheuer

»In unseren Händen müssen die Worte des Vorsitzenden Mao Waffen werden.« Ein als Rotgardist verkleideter Schauspieler reißt Seiten aus Mao Zedongs rotem Buch, bastelt daraus einen spitzen Papierflieger und wirft ihn auf den persischen Schah. Die Botschaft dieses Kurzfilms von Harun Farocki, »Die Worte des Vorsitzenden Mao« aus dem Jahr 1967, ist deutlich: Schluss mit universitären Theoriespielchen, her mit der revolutionären Praxis. Die Kamera führte Holger Meins, spä­ter Mitglied der RAF.

Im gegenwärtigen Kulturkampf um die Bewertung von 68 in Form des medialen Spektakels spielt die chinesische Kulturrevolution kaum eine Rolle. Ohne die Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt und die chinesische Kritik am sowje­tischen Staatssozialismus hätte die Neue Linke in Westeuropa jedoch kaum Bezugspunkte für eine revolutionäre Politik konstruieren können. Die Revolte von Rotgardisten, Rebellen und jungen Arbeitern gegen den Parteiapparat in China 1966/67 wurde zu einem zentralen Bezugspunkt für Spontis, RAF und K-Gruppen.

In der ersten Phase der Studentenbewegung, die man auf 1967 bis 1969 datieren kann, eigneten sich die Akteure Symbole und Ideen aus der chine­sischen Kulturrevolution eher spielerisch an. Die maoistische Studenten-WG in Jean-Luc Godards Film »Die Chinesin« von 1967 wirkt noch konfus und surreal. So diskutieren in dem Film die Pro­ta­gonisten darüber, ob man nicht Bomben an den Universitäten legen sollte, damit diese Institutionen geschlossen werden und die Studenten aufs Land gehen können. Die Spontis und Antiautoritären der ersten Stunde der Bewegung in Westdeutschland bezogen sich auf Mao als erfolgreichen Partisanenführer und als »Anti-Autorität«. Gezielt wurde Mao denn auch als Bürgerschreck in den Auseinandersetzungen mit den bürgerlichen Medien eingesetzt. Mitglieder der »Kommu­ne 1« verkleideten sich als Rotgardisten und warben mit »Karamellbonbons mit Gehirnwäschespurelementen« für Besuche bei der chinesischen Botschaft in Ostberlin. Linke Zeitschriften wie Konkret oder Kursbuch inszenierten die Kulturrevo­lution als authentische Jugendrevolte gegen Dogmatismus und verknöcherte Apparate.

Nach dem Scheitern der Studentenbewegung und der Auflösung von »Kommune 1« und SDS 1969/70 wurde es ernster. Mit der Gründung diver­ser K-Gruppen wurde China nun als Vorbild für den Parteiaufbau herangezogen. Das wilde Durch­einander in der Theorie, vom jungen Marx über die Kritische Theorie und die Anarchisten bis hin zu Mao, wurde nun durch das systematische Studium der »Klassiker« des Marxismus-Leninismus sowie der Peking-Rundschau ersetzt. Nicht nur die K-Gruppen bezogen sich stark auf Mao, sondern auch die RAF tat das. Die grundlegenden Erklärungen »Das Konzept Stadtguerilla« und »Über den bewaffneten Kampf in Westeuropa« der »Mar­xisten-Leninisten mit Knarren« von 1971 sind von Mao-Zitaten durchzogen. »Dem Volke dienend« wollte die erste Generation der RAF den »Krieg der Weltdörfer gegen die Weltstädte« (Lin Biao) in die Metropolen tragen. Die chinesische »Sieg im Volkskrieg«-Rhetorik gehörte damals zum Com­mon Sense der Antiimperialisten weltweit. Im Büro des Vorsitzenden der Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP), George Habash, hing ein Mao-Bild.

Die Neue Linke in Westeuropa und die KP Chinas besaßen Anfang der siebziger Jahre einen gemein­samen Ideenpool. Die Politik der »friedlichen Ko­existenz« der Sowjetunion wurde abgelehnt. Die Verurteilung des Einmarsches des Warschauer Paktes in Prag 1968 stärkte Chinas Ruf als konsequente antiimperialistische Macht. Der »Papiertiger« Imperialismus könne nur durch eine bewaf­f­nete Revolution vernichtet werden. Während die RAF damit sofort beginnen wollte, wollten die K-Gruppen erst das Proletariat für die Revolu­tion gewinnen. Wie die Guerilla-Bewegung in Lateinamerika, so stellten auch die Roten Garden und Rebellen in China die Selbstverständlichkeit der Führungsrolle der traditionellen Kommunistischen Partei in Frage. Wer die Avantgarde der Re­volution sei, könne sich nur im Kampf herausstellen, so fasst Chris Marker den damaligen Kon­sens in der Neuen Linken in seinem Essay-Film »Le fond de l’air est rouge« (1977) zusammen. Des­halb ist es auch nicht verwunderlich, dass sich auch die Linkskommunisten und KP-Dissidenten in Italien um Il Manifesto trotz einiger Kritik stark auf Maos China bezogen.

Das junge, dynamische China schien die perma­nente Revolution zu verkörpern, in der die Massen selbst mit ihren Feinden abrechneten. Selbst Michel Foucault war 1972 von der Idee der sponta­nen Gewalt der Massen fasziniert und stellte die direkte Abrechnung der Massen mit ihren Unterdrückern einer institutionalisierten Volksjustiz durch Gerichte positiv gegenüber. Die Lynchjustiz in der Kulturrevolution meinte man rechtfertigen zu können, da eine Revolution schließlich kein Gastmahl sei (Mao), oder tat sie als Propaganda der bürgerlichen Manipulationsmaschine ab. Bei allen Fraktionen der Neuen Linken in West­deutschland herrschte außerdem das Bedürfnis, sich mit den Massen zu verbinden. Spontis und Maoisten gingen in die Fabriken. Seit dem Septem­berstreik von 1969 glaubte man, dass der schlafende Riese, das Proletariat, langsam erwache. Die frühe RAF wollte auch das Bewusstsein der Massen wachrütteln. Nicht alle K-Gruppen verurteilten die RAF-Strategie scharf. Die KPD/ML grenz­te sich von den »Genossen« von der RAF erst deut­lich ab, als diese 1977 »die Massen« in der Luft­han­samaschine als Geiseln nahmen.

Die Gräben zwischen Spontis, K-Gruppen und RAF waren anfangs nicht so tief, wie sie später erschienen. In der Westberliner Szene-Zeitung Agit 883 diskutierten zunächst alle Strömungen. China funktionierte wunderbar als Projektionsfläche für die eigenen Träume und Bedürfnisse. Die Ideen Mao Zedongs schienen, als seien sie aus einem Supermarkt der subversiven Symbole, in dem sich jeder bedienen konnte. Als Teilnehmer einer weltweiten Revolution mit Peking als Zent­rum fühlte man sich wichtig. Dass Mao schon 1967 die Volksbefreiungsarmee einsetzte, um die Ordnung wiederherzustellen, und durch die Land­verschickung von 15 Millionen Jugendlichen die Roten Garden und Rebellengruppen faktisch zerschlagen wurden, ignorierten die bewegten Linken im Westen. Erst als Mao 1972 Nixon in Peking empfing, jammerten etwa die »Ton, Steine, Scher­ben« auf der Beilage zur Platte »Keine Macht für niemand«: »Mao, Mao, warum hast du uns verlassen?«

Die Erzählung vom guten, undogmatischen 68 und von den bösen, dogmatischen siebziger Jahren lässt sich nicht aufrechterhalten. Viele Akteure konstruierten so ihre Vergangenheit, als sie sich Ende der Siebziger den neuen sozialen Bewegungen zuwandten. Nach der erfolgreichen Be­freiung vom »Mao-Männchen im Kopf« wurde man wieder undogmatisch, so glaubten es zumin­dest die Zeitzeugen in Aussteiger-Literatur wie »Wir waren die stärkste der Parteien« (1977). K-Gruppen und RAF waren Produkte des Scheiterns der Studentenbewegungen. Die Antiautoritären von 1968 und die Parteikader von 1971 waren häufig dieselben Personen. Manche hielten ihre eigene Revolte einfach nicht mehr aus. Angehörige der Kommunen bezeichneten mir gegenüber den Eintritt in die K-Gruppe als Befreiung, weil der Psychoterror und die Daueranalyse der Orgas­musschwierigkeiten ein Ende hatten. Andere ehe­malige Kommunenmitglieder nannten die K-Grup­pen hingegen Sekten, um sich von dieser Periode ihres Lebens abzugrenzen.

Trotz allem Dogmatismus spricht gegen die Sekten-These die hohe Fluktuation: 100 000 bis 150 000 Menschen sollen die K-Gruppen allein in Westdeutschland durchlaufen sowie deren Selbst­auflösung zu Beginn der achtziger Jahre miterlebt haben. Statt das Jahr 1968 zu mystifizieren, ist es sinnvoller, vom roten Jahrzehnt (1967 bis 1977) zu sprechen, das mit dem Tod von Benno Ohne­sorg begann und mit der Todesnacht von Stamm­heim endete. Will man diesen Teil der Geschichte nicht als deutsches Psychodrama der Nazitäter-Kinder oder Provinzposse erzählen, dann kommt man nicht daran vorbei, den großen Einfluss der chinesischen Kulturrevolution auf die Neue Linke zu berücksichtigen.

Der Autor ist Mitherausgeber des Bandes »Kultur­revolution als Vorbild? Maoismen im deutschsprachigen Raum«, der im Sommer im Verlag Peter Lang erscheinen wird.