Überwachen und Strafen

In Frankreich kann inzwischen das Erwachsenenstrafrecht auf Jugendliche angewendet werden. Zunehmend werden verhaltens­auffällige Jugendliche einfach weggesperrt. Dritter Teil der Serie Jugend und Strafe in Europa von bernhard schmid, paris

Die Debatte um das Jugendstrafrecht und den Umgang der Justiz mit Jugendlichen wurde in der vergangenen Woche in Frankreich von einem gravierenden Ereignis überschattet. Am 2. Februar nahm sich das erste Mal ein Jugendlicher in einer Strafanstalt speziell für Minderjährige das Leben. Der 16jährige erhängte sich an einem Belüftungsrohr in seiner Zelle in der Jugendhaftanstalt von Meyzieu, in der Nähe von Lyon. Er soll Medienberichten zufolge seit dem 17. Dezember inhaftiert gewesen sein und sich in psychiatrischer Behandlung befunden haben.

Warum ein Jugendlicher, der offenkundig schwe­re Persönlichkeitsstörungen aufwies und deshalb eines Psychiaters bedurfte, in eine Zelle gesteckt statt in eine Klinik eingewiesen wurde, ist unklar.

Der damalige konservative Justizminister Pascal Clément hat die Anstalt am 9. März vorigen Jahres eingeweiht. Damals sprach er auf der Pressekonferenz von einem »Klassenzimmer, das von Mauern umschlossen ist«, und machte sich für »humanistische Gefängnisse« stark. Nicht alle Be­obachter teilten allerdings seinen Enthusiasmus. Die CGT-Gewerkschaft des Gefängnispersonals sowie der Erzieher, aber auch die linke Richtergewerkschaft Syndicat de la Magistrature sprachen von einer Spektakelpolitik, die wahlpolitischen Zwecken diene. Tatsächlich fand zwar die Einweihung im März statt, die ersten Jugendlichen bezogen die Haftanstalt erst im Juni – die damalige Regierung wollte aber den Einweihungstermin unbedingt vor den Wahlen im April ansetzen. Zudem bemängelten mehrere Gewerkschaften von Erziehern und Sozialarbeitern, es handele sich bei der Errichtung eines Gefängnisses speziell für Jugendliche nur um einen weiteren Schritt hin zu einer zunehmend repressiven Politik, mit einer auffälligen Tendenz zum »Wegsperren« schwer erziehbarer oder verhaltensauffälliger Jugendlicher.

Bis vor wenigen Jahren waren minderjährige Straftäter in gesonderten Abteilungen innerhalb der für Erwachsene bestimmten Gefängnisse untergebracht. Dieser Zustand rief zunehmend Kritik hervor, und manche Beobachter sprachen davon, dass Jugendliche oder junge Erwachsene in aller Regel »krimineller aus dem Gefängnis herauskommen, als sie hineingingen«.

Die Regierung reagierte auf die Kritik, indem sie die Auslagerung der minderjährigen Gefangenen aus den »normalen« Justizvollzugsanstalten und den Aufbau besonderer Jugendgefängnisse forcierte. Nach der konservativen Justizreform im September 2002 sind sieben solcher Jugendhaftanstalten mit insgesamt 420 Plätzen geplant worden. Die fünfte Anstalt wurde am Dienstag vergangener Woche in Orvault, in der Nähe der westfranzösischen Stadt Nantes, in Betrieb genommen. In einer von 150 Erziehern, überwiegend aus der Region, unterzeichnete Petition heißt es dazu: »Der Platz von Jugendlichen ist nicht im Gefängnis. Wir werden nicht in der Jugendhaftanstalt arbeiten!« Die Verwahrung von Jugendlichen in Strafanstalten wird darin als »Verbrechen erzeugend« – und nicht verhindernd – bezeichnet.

In Frankreich bildet eine Verordnung aus dem Jahr 1945 die juristische Grundlage des Jugendstrafrechts. Sie erlaubt die Inhaftierung von Jugendlichen ab 13 Jahren. Allerdings galt lange Zeit die Einschränkung, dass dies nur beim Vorliegen von »Verbrechen« möglich ist. Das sind nach französischem Recht Straftaten, deren Höchst­strafe mindestens zehn Jahre beträgt und die von einem Geschworenengericht beurteilt werden – also eine relativ beschränkte Anzahl der schwersten Gesetzesverstöße, von Mord über »Verbrechen gegen die Sicherheit des Staats« bis zu brutalen Raubüberfällen.

Seit der konservativen Strafrechtsreform von 2002 wird die Grenze bei der Möglichkeit, Minderjährige einzusperren, allerdings zunehmend verwischt. Nicht länger allein bei »Verbrechen«, sondern auch bei weniger schweren Straftaten, die als »Vergehen« betrachtet werden, kann unter bestimmten Fällen eine Einlieferung des oder der Jugendlichen ins Gefängnis erfolgen. Etwa dann, wenn der minderjährige Täter sich einer Melde­auflage im Rahmen einer Kontrollmaßnahme der Justiz entzogen hat. Zudem wurden mit dem Gesetz zur Justizreform so genannte geschlossene Erziehungszentren eingeführt, die zwar keine Haftanstalten sind, die aber eine Vorstufe zum Gefängnis bilden. Falls ein dort eingewiesener Jugendlicher seinen Pflichten nicht nachkommt, landet er in der Haftanstalt. Ferner gibt es nun die Möglichkeit, für Kinder im Alter zwischen zehn und 13 Jahren richterliche Sanktionen zu verhängen, die zwar keine Haft beinhalten, wohl aber »erzieherische Maßnahmen«.

Mit dem »Gesetz zur inneren Sicherheit im Alltag«, das bereits im Herbst 2001 unter einer sozialdemokratisch geführten Mehrheit angenommen wurde, ist es möglich, kurze Haftstrafen für »Delikte« wie etwa den »unerlaubten und die Anwohner störenden Aufenthalt in den Treppenhäusern« von Hochhaussiedlungen zu verhängen. Allerdings haben die Richter dies bislang kaum angewandt, und die Justiz zeigt sich oft eher peinlich berührt, wenn derartige Straftaten zur Anzeige gebracht werden.

Das Gesetz für die Behandlung von »Rückfalltätern« (récidivistes), das das Justizministerium im Sommer vorlegte, betrifft ebenfalls minderjährige Straftäter. Es schränkt den individuellen Ermessensspielraum von Richtern ein, indem es ab der dritten ähnlich gearteten Straftat unterschiedslos Mindeststrafen festlegt, die in der Regel bei rund einem Drittel der Höchststrafe liegen. Spielräume bei der Beurteilung der individuellen Täterpersönlichkeit und des Tathintergrunds entfallen weitgehend. Zudem kann es zu außergewöhnlichen Härten kommen, da dem Gesetz zufolge bei der dritten Verurteilung wegen Drogen­handels – worunter auch der Verkauf von Haschisch oder Marihuana fallen kann – eine Mindeststrafe von vier Jahren zu verhängen ist. Die Richter können von der Verhängung der Mindeststrafe abweichen, müssen jedoch in diesem Fall den Beschluss gesondert und ausführlich rechtfertigen.

Zudem sieht das Gesetz vor, dass ab dem zweiten Rückfall die Anwendung des Jugendstrafrechts ausscheidet und dieselben Maßstäbe wie bei Erwachsenen angelegt werden. Auch hier kann der entscheidende Richter individuell beschließen, von dieser Regel abzuweichen, muss aber auch eine solche Entscheidung explizit und gesondert begründen – weshalb er es in der Regel wohl nicht tun wird.