Die Zukunft der Zelle

Der Bundestag debattiert über die Forsch­ung mit embryonalen Stammzellen. Woher die Zellen kommen und ob es nicht dringendere Probleme in der medizinischen Versorgung gibt, scheint kaum jemanden zu interessieren. von guido sprügel

Es sollte eine »Sternstunde des Parlaments« werden. Am Donnerstag voriger Woche durfte im Bundestag ohne Fraktionszwang über die Forschung mit embryonalen Stammzellen diskutiert werden. Über drei Stunden debattierten die Abgeordneten vor relativ leeren Rängen dann über die Frage, ob die gültige Stichtagsregelung verändert werden soll. Sie besagt, dass deutsche Forscher nur mit Stammzelllinien forschen dürfen, die vor dem 1. Januar 2002 im Ausland hergestellt wurden. Auf diese Regelung hatte sich der Bundestag Anfang 2002 nach langen Debatten geeinigt. Die Lockerung dieser Stichtagsregelung galt bislang, auch aufgrund des strengen, deutschen Embryonenschutzgesetzes, als nicht verhandelbar. Doch in den vergangenen Jahren mehrten sich die Stimmen für eine Lockerung. Die Öffentlichkeit verbindet mit der Stammzellenforschung die Möglichkeit, schwere Krankheiten wie Parkinson oder Alzheimer zu heilen. Obwohl es bislang keinerlei Erfolge gibt, betreibt auch der Bundestag den Stammzellhype.

Angela Merkel (CDU) hat in den vergangenen Monaten immer wieder angemerkt, dass sie sich vorstellen könne, die Regelung zu lockern. Am Donnerstag hielt sie sich aber in der Debatte diplomatisch zurück und überließ den Abgeordneten die Diskussion. Vier verschiedene Anträge liegen im Bundestag vor. Jeder wird von Abgeordneten aus verschiedenen Parteien unterstützt. Der Antrag des CDU-Abgeordneten Hubert Hüppe sieht ein vollständiges Verbot der Forschung mit embryonalen Stammzellen vor. 52 Lebensschützer unterstützen derzeit diesen Antrag. Sie verweisen darauf, dass für jede embryonale Stammzelle menschliches Leben getötet werde. »Ich plädiere für die Menschenwürde. Wir werden den Fortschritt auch damit erreichen«, sagt der FDP-Politiker Konrad Schily.

»Das kategorische Verbot durch einen Stichtag ist kontraproduktiv, es vereitelt jegliche Chance auf deutsche Spitzenforschung«, behauptet Cornelia Pieper von der FDP, die stellvertretende Vorsitzende des Bundestagsausschusses für Bildung und Forschung. 94 Abgeordnete plädieren für die vollständige Freigabe der Forschung mit den begehrten Zellen. Sie argumentieren mit der »Forschungsfreiheit«, die nicht eingeschränkt werden dürfe. Den Antrag befürworten u.a. Guido Westerwelle (FDP) und Gregor Gysi (»Die Linke«).

Ein weiterer Antrag, der von 185 Parlamentariern unterstützt wird, sieht eine einmalige Verschiebung des Stichtags vor. Dem Gesetzentwurf zufolge, der von den Abgeordneten René Röspel (SPD) und Ilse Aigner (CSU) eingebracht wurde, soll der Stichtag einmalig auf den 1. Mai 2007 verschoben werden. Dadurch würden der Forschung statt der bisher 40 etwa 500 Stammzelllinien für die Forschung in Deutschland zur Verfügung stehen. Der Antrag wird auch von Bundeskanzlerin Merkel und Bildungsministerin Annette Schavan (CDU) unterstützt.

Der vierte Antrag wird zurzeit von etwa 150 Abgeordneten unterstützt. Er sieht im Wesentlichen vor, alles beim Alten zu belassen. Weder soll der Stichtag verändert noch soll die Forschung gänzlich verboten werden. Der parlamentarische Geschäftsführer der Fraktion der Grünen, Volker Beck, sagte, bei einer Verschiebung des Stichtags wären »alle Dämme gebrochen«. Er warnte davor, dass die Forscher immer wieder eine erneute Veränderung des Stichtags fordern würden. Die Debatte am vergangenen Donnerstag schloss noch nicht mit einer Entscheidung. Sie soll erst im März fallen. Derzeit scheint es so, als ob eine einmalige Verschiebung des Stichtags eine parlamentarische Mehrheit erhalten könnte.

Doch allen Anträgen ist gemeinsam, dass sie die Herkunft der »embryonalen Stammzellen« fast gar nicht zur Sprache bringen. Die Zellen sind für die Forschung aber nur verfügbar, wenn sich Samenspender und vor allem Eizellenspenderinnen finden. Und gerade die Rolle der »Spenderin« findet keine Beachtung. Dabei weiß man von der Eizellenspende für die künstliche Befruchtung, dass Kliniken im europäischen Ausland den Spenderinnen nur ein Taschengeld zahlen. Viele Kliniken, die sich auf die künstliche Befruchtung spezialisiert haben, befinden sich in Osteuropa. Dort sind die Eizellen günstig zu haben. Über den gefährlichen Eingriff für die Spenderinnen wird so gut wie nicht berichtet.

Erika Feyerabend, Redakteurin der biopolitischen Zeitschrift Bioskop, sieht genau hier einen Schwachpunkt der Debatte in Deutschland. »Es besteht die Gefahr, dass Frauen als Ersatzteillager und Eizelllieferantinnen instrumentalisiert werden«, sagt sie im Gespräch mit der Jungle World. Die industrielle Vermarktung der Stammzellenforschung würde den Bedarf an Embryonen und demnach nach Eizellen deutlich in die Höhe treiben. Woher diese kommen sollen, bleibt völlig unklar.

Ein weiterer ungeklärter Punkt ist das Heilsver­sprechen der Stammzellenforschung, das bislang noch nirgendwo eingelöst wurde. »Man muss immer wieder betonen, dass es hier um Grundlagenforschung geht. Es ist noch überhaupt nicht klar, ob daraus irgendwann Therapien werden können«, erläutert Feyerabend. Und wenn es in Zukunft Therapieansätze für schwerkranke Alzheimer- oder Parkinson-Patienten geben sollte, stellt sich die nächste Frage: An wem werden die neuen Therapien gestestet? »Das ist hochproblematisch. Vor der medizinischen Akzeptanz einer Therapie muss diese am Menschen auf Unbedenklichkeit geprüft werden. Soll dies dann an einwilligungsunfähigen Alzheimerpatienten geschehen?«, fragt Feyerabend bewusst provokant. Diese weiterreichenden Fragen werden im Bundestag nicht debattiert. Aber selbst eine Verschiebung der Stichtagsgrenze würde unweigerlich zu den nächsten heiklen Fragen führen. »Kritik ist kaum möglich. Wer die Stamm­zellenforschung beschränken will oder als biomedizinische Sackgasse ansieht, wird für Krankheit und Tod vieler verantwortlich gemacht«, fasst Feyerabend das Problem zusammen.

Während alle über die Möglichkeiten der Stamm­zellenforschung diskutieren, verschlechtert sich das deutsche Gesundheitssystem rapide. Im Bereich der Altenpflege wird immer wieder vor dem Kollaps gewarnt. »Während der Stammzelle eine Riesenaufmerksamkeit geschenkt wird, findet in immer mehr Heimen Pflege im Minutentakt statt«, sagt Christian Frodl, der Sprecher und Koordinator der Interessengemeinschaft Kritische Bioethik, im Gespräch mit der Jungle World. Auch im Bereich der Palliativmedizin erinnert Deutschland eher an ein Entwicklungsland. »Wir diskutieren im Zusammenhang mit der embryonalen Stammzellenforschung über die mögliche Behandlung von Krankheiten in ferner Zukunft, während wir noch nicht mal die aktuellen Probleme für ein Sterben in Würde gelöst haben. Denn hierfür fehlen ja angeblich die finanziellen Mittel«, fasst Frodl die Debatte zusammen.

Im Bereich der Hausarztversorgung hat sich diese Lage Anfang 2008 weiter verschlechtert. Für Gespräche, EKG und Spritzen bekommen Hausärzte seit Anfang des Jahres nur noch eine Pauschale von 40 Euro pro Kassenpatient und Quartal. Ob die Stammzelle in Zukunft das Gespräch mit einem vertrauten Arzt ersetzen kann, bleibt abzuwarten. In den vier Anträgen wird die Frage weder gestellt noch beantwortet.