Die Jugend von der Straße holen

Das Jugendstrafrecht der Schweiz setzt auf Erziehung vor Strafe. Die öffentliche Diskus­sion um Jugendgewalt geht derzeit allerdings in eine andere Richtung. Fünfter Teil der Serie Jugend und Strafe in Europa von yves kramer, zürich

Es geschah während des Karnevals mitten im Tessiner Ferienort Locarno. In einer dunklen Altstadtgasse schlugen und traten drei junge Männer so lange auf einen 22jährigen Studenten ein, bis er regungslos am Boden liegen blieb und wenig später im Krankenhaus seinen schweren Verletzungen erlag.

Die Bestürzung über den Tod des jungen Mannes war groß. Und wie immer in solchen Fällen waren Politiker von rechts bis links sofort zur Stelle, um »hartes Durchgreifen« und drakonische Strafen zu fordern. Die Hintergründe der Tat sind allerdings bisher nicht bekannt. Umso mehr weiß man dagegen über die mutmaßlichen Täter, die inzwischen in Lugano in Untersuchungshaft sitzen. Sie sind zwischen 19 und 21 Jahre alt und stammen aus Bosnien und Kroatien, wobei zwei von ihnen einen Schweizer Pass besitzen.

Der Tod des jungen Tessiners ist das jüngste Beispiel einer ganzen Reihe von spektakulären Fällen, die sich in letzter Zeit in der Schweiz ereignet haben und in die meist Jugendliche mit Migra­tionshintergrund verwickelt waren. Dies passt bes­tens zum gängigen Stereotyp, wonach gewalttätiges und kriminelles Verhalten vor allem etwas mit der Herkunft der Menschen zu tun habe. So sind Vorfälle wie der von Locarno für all jene ein gefundenes Fressen, die aus Jugendkriminalität in erster Linie ein »Ausländerproblem« machen wollen.

Gleiches gilt für die Medien, die seit geraumer Zeit das Bild einer Jugend kolportieren, die außer Rand und Band geraten sei. Jeder neue Artikel, jede neue Sendung über einen Fall, in den Jugendliche verwickelt sind, verstärke das Gefühl in der Bevölkerung, dass immer mehr Jugendliche kriminell würden, schreibt Olivier Guéniat in der Roten Revue, der Zeitschrift der Sozialdemokratischen Partei (SP) für Politik, Wirtschaft und Kultur. Der Chef der Neuenburger Kriminalpolizei, Autor eines Buches zu Jugendkriminalität, ist einer der wenigen, die bisher einen kühlen Kopf bewahrt haben. Der Darstellung in den Medien begegnet er mit einem Blick in die Polizei- und Gerichtsstatistik. Dieser zeige, so Guéniat, dass in den letzten 20 Jahren kriminelle Handlungen von Jugendlichen nicht etwa zu-, sondern abgenommen haben.

Lückenhafte Daten und mangelhafte Statistiken lassen aber einigen Spielraum für unterschiedliche Deutungen zu. Trotzdem ist man sich unter Experten einig, dass in den vergangenen Jahren zumindest keine erhebliche Zunahme der Jugendkriminalität festzustellen ist. Einzig die Zahl der Gewaltdelikte stieg an. Allein deshalb »von einem dramatischen Anstieg der Jugenddelinquenz auszugehen«, wäre aber verfehlt, schrieb im vorigen Sommer selbst das Bundesamt für Justiz, dem damals noch der Vorsitzende der rechten SVP, Christoph Blocher, vorstand. »Lediglich zwei Promille der minderjährigen Wohnbevölkerung werden wegen Gewaltdelikten verurteilt.« Mit solchen Zahlen lässt sich schlecht Politik machen. All die »Positionspapiere« zu »Jugendgewalt«, die vor den Wahlen im Herbst entstanden, sprechen denn auch eine andere Sprache. Sie sind Zeugen einer Debatte, die offensichtlich aus dem Ruder gelaufen ist, da sie vor allem anhand empörender Einzelfälle geführt wurde. Daran hat sich auch nach den Wahlen nichts geändert.

Nicht nur die SVP hat nach dem Vorfall in Locarno umgehend gefordert, die kriminellen Schläger müssten sofort ausgebürgert und aus dem Land geschafft werden. Da es dafür derzeit keine Rechts­grundlage gibt, ist dies zwar reine Schaumschlägerei. Doch in Zukunft soll das anders werden. Dafür hat die SVP am vorigen Nationalfeiertag (1. August) eine Volksinitiative lanciert, die so genannte Ausschaffungsinitiative. Die Partei fordert, dass »gewalttätige und kriminelle Jugendliche« ohne Schweizer Pass zusammen mit ihren Eltern des Landes verwiesen werden.

Dieses Ansinnen hat einiges Aufsehen erregt. Was die SVP da fordere, sei Sippenhaft und erinnere mehr ans Mittelalter als an einen modernen Rechtsstaat, hieß es selbst in den Reihen der anderen bürgerlichen Parteien. Doch die SVP lässt diese Kritik nicht gelten. Mit völkerrechtlichen und rechtsstaatlichen Bedenken will sie sich nicht aufhalten lassen. Lieber knöpft sie sich auch noch das neue Jugendstrafrecht vor, das seit dem 1. Januar 2007 in Kraft ist. Aber auch in der SP finden sich Mitglieder, die sich Veränderungen wünschen, beispielsweise beim Freiheitsentzug, der zukünftig bereits bei 14jährigen Straftätern für mehrere Jahre möglich sein soll.

Derzeit dürfen 15jährige Jugendliche höchstens ein Jahr hinter Gitter kommen, und Täter zwischen 16 und 18 Jahren, die schwere Verbrechen wie Mord oder Vergewaltigung verüben, können vier Jahre eingesperrt werden. Freiheitsentzug ist die schwerste Strafe, die das Jugendstrafrecht vorsieht. Daneben kann der Jugendrichter auch Bußstrafen oder Arbeitsleistungen verordnen. Die Strafmündigkeit beginnt in der Schweiz mit zehn Jahren.

Auch die Christliche Volkspartei (CVP) sieht bereits Handlungsbedarf beim neuen Jugendstrafrecht. Sie fordert in einem Strategiepapier, über das derzeit parteiintern diskutiert wird, »innovativere Sanktionsmaßnahmen«. Statt Jugendliche ins Gefängnis zu stecken, will sie auf andere Weise deren Mobilität einschränken. Strafen wie Hausarrest mit elektronischen Fußfesseln, Platz- oder Kneipenverbote würden die Jugendlichen stärker treffen und wirkten deshalb abschreckend, meint man bei der CVP.

Bei all diesen Rufen nach härteren Strafen wird leicht vergessen, dass das Schweizer Jugendstrafrecht eigentlich dem Grundsatz verpflichtet ist, dass Erziehung vor Strafe kommt. Nicht die Schwe­re einer Tat oder das Verschulden des Täters selber stehen deshalb beim Vorgehen des Jugendanwalts im Vordergrund. Ihn interessiert in erster Linie, was der minderjährige Straffällige an Unterstützung, Erziehung und Betreuung braucht, um den Anschluss an die Gesellschaft wieder zu finden. Deshalb bestraft der Jugendanwalt fehlbare Jugendliche nicht nur, sondern verordnet auch erzieherische und therapeutische Maßnahmen. Das Gesetz sieht vor, dass selbst der Freiheitsentzug unter erzieherischen Gesichtspunkten gestaltet wird. Zudem kann der Jugendanwalt ihn zugunsten einer stationären Maßnahme aufschieben, wenn ihm dies sinnvoll erscheint.

»Die Erfahrung zeigt, dass härtere Strafen die Jungen nicht auf den richtigen Weg zurückbringen«, sagt der Jurist und Kriminologe Peter Mösch Payot, der an der Hochschule Luzern Sozialrecht lehrt. Er warnt davor, das im internationalen Vergleich erfolgreiche Schweizer Modell ohne Not aufs Spiel zu setzen und beispielsweise aus Kostengründen oder ideologischen Überlegungen auf einfache Strafen zu setzen, wo eigentlich aufwändige Maßnahmen angezeigt wären. Diese Rechung würde langfristig für niemanden aufgehen.

Trotz dem offensichtlich weit verbreiteten Bedürfnis, fehlbare Jugendliche härter anzufassen, glaubt Payot nicht, dass sich in absehbarer Zeit am »erziehungsorientierten Jugendstrafrecht« viel ändern wird. Spürbare Verschärfungen seien eher beim Polizeirecht zu bemerken.

Als erste Schweizer Stadt plant Chur, nachts zwischen halb eins und sieben Uhr auf öffentlichem Grund das Konsumieren von Alkohol zu verbieten. Man wolle so »jugendlichen Rauschtrinkern« einen Riegel vorschieben, heißt es von Seiten der Polizei. In der Berner Gemeinde Interlaken wären die Jugendlichen froh, sie dürften um diese Zeit überhaupt noch draußen sein. Ein Passus im Polizeireglement untersagt es Schülern, sich nach 22 Uhr in der Öffentlichkeit aufzuhalten.