Abwärts im Aufschwung

Zwischen sinkenden Reallöhnen und Abstiegsängsten einer schrumpfenden Mittelklasse verfestigen sich die sozialen Gegensätze. von lutz getzschmann

So viel gestreikt wurde lange nicht mehr. Arbeits­kämpfe scheinen Bestandteil der Normalität in Deutschland zu werden. Die übliche Kampagne, die in den Medien erfahrungsgemäß losbricht, wenn mal wieder wegen Streiks Züge stillstehen oder Flüge ausfallen, fiel diesmal bisher relativ moderat aus. Man zeigt ein gewisses Maß an Ver­ständnis und sorgt sich um das wachsende Missverhältnis zwischen Lohnentwicklung und Unter­nehmensgewinnen. Angesichts der letzten Managerskandale und Meldungen über Massenentlassungen trotz Rekordgewinnen bei diversen Unternehmen wären allzu heftige Angriffe auf die Gewerkschaften auch schwer vermittelbar. Zudem sprechen immer mehr Gutachten der Wirt­schafts­institute von »schrumpfenden Mittel­schich­ten« und konstatieren auseinanderdriftende und zunehmend polarisierte Klassenlagen in Deutschland. Trotz des ideologischen Charakters solcher Studien lassen sich aber auch Entwicklungen erkennen.

Das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) bei der Hans-Böckler-Stiftung legte Anfang März einen Report vor, der zeigt, dass in den letzten drei Jahren trotz eines Wachstums des Bruttoinlandsprodukts um sieben Prozent die Einkommen der privaten Haushalte insgesamt kaum gestiegen sind. Betrachtet man nicht die Einkommen insgesamt, sondern lediglich die Löhne der abhängig Beschäftigten, sanken die verfügbaren Einkommen sogar um 3,5 Pro­­zent, während sie in der letzten Auf­schwung­phase zwischen 1998 und 2001 noch um vier Prozent gestiegen waren. Im derzeitigen Aufschwung stagniert der Privatkonsum, der real um ein Prozent zunahm, fast. Im vorigen Zyklus war er real noch um gut sieben Prozent gewachsen.

Noch deutlicher als die Arbeitseinkommen san­ken die realen staatlichen Transfers, also Renten, Sozialleistungen usw. an die privaten Haushalte, nämlich um fast sechs Prozent. Im vorigen Aufschwung waren die Leistungen noch um knapp vier Prozent gestiegen. Den Rückgang erklären die Ökonomen des IMK mit »Nullrunden bei den nominalen Renten, stagnierenden no­minalen Leistungen bei Kindergeld, Bafög und anderen staatlichen Leistungen. Nur zu einem geringen Teil hat auch die niedrigere Arbeitslosen­zahl dazu beigetragen.« Wenn man bedenkt, dass die Abnahme der Erwerbslosenzahlen zu einem beträchtlichen Teil statistischen Tricks, der Schaf­fung von Ein-Euro-Jobs und dem inzwischen stark gewachsenen Niedriglohnsektor geschuldet ist, in dem gut 2,6 Millionen Menschen ergänzend Arbeitslosengeld II erhalten, weil sie von ihren Löhnen nicht mehr leben können, ist das auch kaum ein Wunder.

Die Einnahmen von Unternehmern, Aktien­besitzern und anderen Kapitaleignern hingegen stiegen deutlich an. Die Gewinne der Unternehmen seien »geradezu explodiert«, so die Forscher des IMK. Die nominalen Bruttogewinne der Unternehmen wuchsen in diesem Aufschwung um 25 Prozent. An den unteren Einkommenssegmen­ten hingegen ist der Aufschwung weitgehend vor­beigegangen.

Zwei Drittel der erwachsenen Bevölkerung haben kein oder nur geringes Vermögen, während das reichste Zehntel knapp 60 Prozent des Gesamtvermögens besitzt, wie eine Vermögensstudie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) unlängst ergeben hat. Das den Unternehmern nahestehende Institut kam bereits im November 2007 zu dem Schluss, dass die Hälf­te der erwachsenen Gesamtbevölkerung über keine oder nur geringe Markteinkommen verfügt, im Klartext: dass sie gerade einmal genug verdient, um damit bis zum Ende des Monats zu kom­men. Die historisch gesehen kurzen Zeiten, in denen eine integrierte und abgesicherte Arbeiter­klasse von ihren Facharbeiterlöhnen Häuser bau­en und Sparbeträge vererben konnte, scheinen vorerst vorbei zu sein. Die vorherrschende Lebens­situation ist, auch in der öffentlichen Wahrnehmung, wieder die des doppelt freien Lohnarbeiters – frei von jedem über die materielle Reproduk­tion hinausreichenden Besitz.

Das Problem haben auch die Wissenschaftslobby­isten der deutschen Industrie. Im neuesten Wochenbericht des DIW sorgen sich die Wissenschaft­ler um die schrumpfende Mittelschicht, also jenen Teil der lohnarbeitenden Bevölkerung, der sich bisher der Vorstellung hingeben konnte, der klassischen Ungesichertheit des proletarischen Lebens dauerhaft entkommen zu sein. Sie stellen fest, dass seit 1992 der Anteil derjenigen, die über mittlere Einkommen verfügen, von 62 auf 54 Prozent zurückgegangen sei, wobei sie auch in­nerhalb dieses Segments ein deutliches Sinken der Einkommen feststellten.

Solche Zahlen messen zunächst nur soziale Ungleichheit, nicht aber verfestigte Klassenunter­schiede. Des Weiteren zeigt sich eine Stabilisierung der Einkommensschichten. Während zwischen 1996 und 2000 nur rund 54 Prozent aller Armen auch nach fünf Jahren noch in dieser Einkommensschicht waren, traf dies für den Zeitraum zwischen 2002 und 2006 bei mehr als 66 Prozent zu. Auch am oberen Rand der Einkommenshierarchie konnten 69 Prozent ihren Einkom­mensstandard in den letzten fünf Jahren halten. Etwa 14 Prozent der »Mittelschicht« des Jahres 2002 bewegten sich 2006 in Richtung Armutseinkommen. Besonders stark betroffen von diesem Abwärtstrend sind Alleinerziehende. Unter den Beziehern hoher Einkommen sind diese nach Auskunft des DIW praktisch nicht mehr nachweisbar.

Insgesamt verringerten sich in den letzten Jahren die ökonomischen Aufstiegschancen, während für einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung das Risiko des sozialen Abstiegs deutlich zunahm. Wobei auch eine Entkoppelung von Löhnen und Kapitaleinkünften festgestellt werden kann. Wäh­rend für das oberste Prozent der Einkommensskala herkömmliche Erwerbseinkommen nur fünf Prozent ihrer Einkünfte ausmachen und auch die obersten Segmente der vom DIW analysierten »Mittelschicht« sich angesichts sinkender Erwerbs­einkommen zunehmend in Kapitaleinkünfte flüch­ten, verfügt die Mehrzahl auch der Haushalte mit mittleren Einkommen mittlerweile über so gut wie keine Kapitaleinkünfte mehr.

Die Verfestigung der Klassenunterschiede macht sich auch bei Kindern und in der Bildung und Erziehung verstärkt bemerkbar. Ausgerechnet die Konrad-Adenauer-Stiftung legte im vergan­genen Monat eine Studie vor, die nicht nur den engen Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft, Migrationshintergrund und Schulerfolg bestätigt, sondern auch feststellt, »dass sich in den jeweiligen Milieus einander fremde Sinn- und Wertehorizonte entwickeln, die unter dem Druck verstärkter Anforderungen an Bildung, Erziehung und Beruf (…) weiter auseinanderklaffen«. Deutsch­land sei auf dem Weg in eine »neue Art von Klassengesellschaft«, wobei die Trennungs­linie eben nicht nur von Einkommen und Vermögen, sondern auch von kulturellen Aspekten wie etwa Bildungskapital und Bildungs­as­pi­rat­ionen, aber auch Werten und Alltagsästhetik definiert werde. Die Autoren der Studie verweisen auf eine soziale Entmischung von Stadtteilen und Lebensumfeldern sowie eine Abgrenzung der bürgerlichen Milieus nach unten.

Die Frage, ob sich daraus auch ein neues Klassen­bewusstsein entwickelt und verfestigt, wäre ein lohnendes Thema für eine teilnehmende Feldforschung des zunehmend in den Strudel der Reproletarisierung gerissenen linken Milieus. Dieses hatte noch in den neunziger Jahren wohl etwas vorschnell seinen Abschied vom Proletariat verkündet.