Escape from Colditz

Im sächsischen Muldentalkreis verüben Rechtsextreme Angriffe und Brandanschläge auf Antifaschisten, Migranten und alternative Veranstaltungen. Öffentliche Stellen wiegeln ab, die polizeilichen Ermitt­lungen werden häufig eingestellt. von melissa kraul

Die Gefangenen unternahmen mehrere Versuche, aus dem hoch über dem Muldental gelegenen Schloß Colditz auszubrechen. Neun Monate lang gruben sie zunächst unbemerkt von den Deutschen einen meterlangen Tunnel. Sie nähten sich falsche Naziuniformen. Sie bauten sich 1945 auf dem Dachboden des Schlosses sogar ein Segel­flugzeug, um zu entkommen. Die alliierten Of­fiziere wurden im Zweiten Weltkrieg von den Nazis im Schloss der mittelsächsischen Stadt Colditz gefangen gehalten. Die BBC-Serie »Colditz« ist in Großbritannien sehr bekannt. »Escape from Colditz« heißt ein britisches Brettspiel, das die Fluchtversuche der gefangenen Soldaten zum Vorbild hat. 1991 kam es sogar als Computerspiel auf den Markt.

Eine Flucht aus Colditz haben auch fünf Jugendliche hinter sich. Mitte Februar gerieten sie in eine Verfolgungsjagd mit örtlichen Neonazis. Die fünf kamen von einer Antifa-Demonstration in Borna. »In Colditz bremste uns ein Auto voller Neo­nazis aus. An einem Kreisverkehr bogen wir anders als das Auto ab und fuhren auf einer Landstraße aus dem Ort. Doch plötzlich tauchten hinter uns vier Autos auf«, erinnert sich einer von ihnen. Auf einer Landstraße seien sie dann von einem Wagen gezwungen worden anzuhalten. »Die Neonazis schlugen mit Eisenstangen und Baseballschlägern auf unser Auto ein. Die ganze Zeit hatten wir die Polizei am Telefon. Wir fuhren erneut los, die Neonazis wieder hinter uns her. Erst als Polizeiwagen zu sehen waren, verschwanden sie«, blickt der Verfolgte zurück.

Am 23. Februar, eine Woche danach, ereignete sich der nächste Angriff in Colditz. Etwa 100 Neonazis tauchten am frühen Abend im Stadt­zen­trum auf, griffen einen Laden für Elektro­geräte und eine Turnhalle an und warfen an einer Dönerbude eine Scheibe ein.

Die Elektrohandlung und die Turnhalle wurden zu Zielen der Attacke, weil in dem großen Gebäude, in dem sie sich befinden, im vergangenen Jahr mehrmals alternative Konzerte stattgefunden hatten.

Sie seien von Anfang an von Rechtsextremen angegriffen worden, sagt Ralf*, der die Veranstaltungen mit anderen organisiert hat. »Ungefähr 100 Leute waren auf dem ersten Konzert in der Halle. Neo­nazis warfen von draußen Steine und faule Eier durch die Scheiben«, berichtet er. Nach­dem diese noch mehrmals zerschlagen worden waren, vernagelte man die Fenster mit dicken Spanplatten.

Beim bisher letzten Angriff hätten die Rechten die alten Steinpapierkörbe aus dem Bürgersteig gerissen, um die Türen des Ladens und der Turnhalle einzurammen, sagt Ralf. Die Fensterscheiben des Elektroladens wurden eingeschlagen. »Die mit Spanplatten vernagelten Fenster wurden mit Brandsätzen beworfen. In das Elektrogeschäft warfen die Nazis eine Bombe, die explodierte und überall im Laden eine grüne Chemika­lie verbreitete. Die Elektrogeräte, die in dem Raum standen, sind Schrott. Nach Informationen der Polizei kommt dieser Sprengkörper aus Polizei- oder Bundeswehrbeständen«, erzählt der Mann.

Der Bürgermeister Manfred Heinz (FDP) will die Konzerte mittlerweile verbieten. Nach dem vorläufig letzten Konzert am 1. Februar hatte sich spontan eine Antifa-Demonstration gebildet. Auf dem Markt der Stadt hatten sich schon 60 Rechts­extreme versammelt, die Polizei unterband die Demonstration und nahm die Personalien der Beteiligten auf.

Auf dem Konzert waren auch Betreiber der Kam­pagne »Let’s fight white pride!« anwesend. »In der Region gibt es eine Unterstützerstruktur für die Konzerte«, sagt Charlotte, die sich an der Kam­pagne beteiligt. In der angrenzenden Region um Döbeln besteht seit den neunziger Jahren eine große Hardcore-Szene. Den Machern der Kam­pagne, die lange Zeit »Good night, white pride!« hieß, geht es unter anderem darum, den Einfluss von Neonazis in der Hardcore-Szene einzudämmen.

Einer ersten Nachricht der Leipziger Volkszeitung zu dem Konzert im Februar zufolge vertauschte die Polizei links und rechts kurzerhand. »In einem Privatgelände hätten sich bei einem Konzert vermutlich Jugendliche aus der rechten Szene aufge­halten, während vor dem Gelände rund 50 Personen aus der linken Szene aufgetaucht wären«, berief sich die Zeitung auf die Polizei. Diese blieb trotz gegenteiliger Aussagen der Konzertveranstalter in der Leipziger Volkszeitung bei ihrer Darstellung. Zu dem Konzert und der versuchten Spon­tandemonstration äußerte sich der Colditzer Bür­germeister im Amtsblatt der Stadt: »Wer ohne Anmeldung mitten in der Nacht eine Demonstration abhalten will, hat bei uns nichts zu suchen.«

Mittlerweile hat sowohl im Fall der Verfolgungs­jagd als auch im Fall des Angriffs auf das Gebäude in Colditz das sächsische Landeskriminalamt die Ermittlungen aufgenommen. Ralf sagt, er habe eine Person identifizieren können, die ihn am Vortag des Angriffs bedroht habe. »Die Polizei hat mich dann aufgefordert, ein Phantombild zu erstellen, obwohl ich den Mann eindeutig iden­tifizieren konnte. In Colditz gab es kein Phantom­bildgerät, weshalb die Polizei mich nach Bad Lau­sick fuhr. Dort wusste die Polizei von nichts und es gab auch kein Gerät. Wir wurden nach Markkleeberg geschickt. Erst dort fragte eine Polizistin, was das überhaupt solle, wenn ich doch eindeutig jemanden identifizieren könne«, berichtet er. Nach seiner Aussage gegen die Person habe sich aber bisher noch nichts getan.

Häufig werden die Ermittlungen gegen Rechtsextreme im Muldentalkreis eingestellt. So explodierten im November 2004 an der Tür des Büros des »Netzwerks für demokratische Kultur« in Wur­zen zwei Rohrbomben. Eine spontane Demonstration von Antifas löste die Polizei brutal auf. Das Ermittlungsverfahren zu dem Sprengstoffan­schlag wurde irgendwann eingestellt.

Die Neonaziszene im Kreis Muldental ist seit den neunziger Jahren sehr stark. Schon vor zehn Jahren beherrschten rechtsextreme Gruppen wie die des derzeitigen NPD-Landtagsmitarbeiters Marcus Müller die Straßen. Anfang des Jahrtausends ging die Zahl der Gewalttaten etwas zurück, doch seit dem vergangenen Jahr häufen sich Angriffe wieder. Nach Informationen regionaler Antifaschisten wurde beispielsweise im Juni 2007 in Bockwitz bei Colditz ein von alternativen Jugendlichen genutzter Bauwagen niedergebrannt, auf dem der Slogan »Good night, white pride!« zu lesen war. Außerdem wurde an dem Tag im selben Ort ein Brandanschlag auf das Wohnhaus einer Migantenfamilie verübt.

»Es ist hier Alltag, dass die Scheiben des Asia- und des Dönerimbisses eingeschmissen werden«, sagt Ralf. Zum 100. Geburtstag von Horst Wessel seien überall in Colditz Graffiti von seinem Porträt gesprüht worden, erzählt er weiter. Mittlerweile prangt an der Hauswand gegenüber des an­gegriffenen Elektrogeschäfts ein großes »Anti-Antifa«-Graffito.

Dem Bürgermeister zufolge ist die Stadt dennoch kein rechtes Nest in Sachsen. Im Mitteldeut­schen Rundfunk betonte er, es seien ja – an jenem 23. Februar – auch viele Autos mit Kennzeichen weiter entfernter Landkreise gesehen worden. Nach Informationen der Polizei waren zahlreiche Mitglieder der verbotenen Gruppierung »Sturm 34« aus Mittweida an dem Angriff in Colditz beteiligt. »Der Verweis auf ›Sturm 34‹ dient auch dazu, das Problem aus der Stadt zu verlagern«, urteilt ein Antifaschist aus der Region.

Unter dem Motto »Ladenschluss für Front Records. Faschisten auf die Pelle rücken« ruft eine antifaschistische Jugendgruppe zu einer Kundgebung gegen das gleichnamige Versandunternehmen und Plattenlabel in Wurzen am kommenden Sonntag auf.

* Name von der Redaktion geändert