Hitlers Kinder

Götz Aly stellt harte Fragen an seine Generation. Leider geht er nicht immer weit genug, findet Luise Hirsch

Vor mehr als 30 Jahren erschien »Hitler’s Children« von Jillian Becker; das erste Buch über die damals noch junge RAF und immer noch die schärfste und beste Analyse zum Thema. Der Fischer-Taschen­buchverlag brachte 1978 eine deutsche Ausgabe heraus, die wohlgemerkt den Titel »Hitlers Kinder?« trug. Der Verlag war wohl der Ansicht, die Titelthese sei so absurd, dass sie nur mit einem Fragezeichen versehen überhaupt in Erwägung gezogen werden könne. Es nützte nichts: RAF-Anwälte bewirkten ein Verbot des Buchs; seitdem hat kein deutscher Verlag den Mut zu einer Neuauflage gehabt. Wer zu früh kommt, den bestraft das Leben eben auch.

Im Zentrum von Götz Alys neuem Buch »Unser Kampf: 1968 – ein irritierter Blick zurück« steht eine simple Rechnung: Die deutschen Achtundsechziger, alle, nicht nur die späteren Mitglieder der RAF, waren Hitlers Kinder. Der Nationalsozialismus hatte seine Massenbasis in der Generation der damals Zwanzig- bis Dreißigjährigen; er war eine ausgesprochene Jugendbewegung. Die Angehörigen genau dieser Bewegung waren die Eltern der Apo-Generation, deren Kern die Jahrgänge 1944 bis 1948 umfasste. Natürlich folgt daraus nicht, dass die Kinder, sozusagen geborene Nazis, selber welche werden mussten. Wenn und falls jedoch die Generation der Kinder der Nazis politische Gemeinsamkeiten mit den Nazis aufweisen sollte, wäre es schon vorsätzliche Blindheit, diese Gemeinsamkeiten nicht zu erkennen und zu benennen. Und zumindest sehr ernsthaft zu erwägen, ob diese Gemeinsamkeiten wirklich nur Zufall sind oder eben doch Kontinuität, egal wie unbewusst oder unbeabsichtigt.

Historische Vergleiche sind immer methodisch heikel und leicht abzuschmettern. Wie gewichtet man Unterschiede, wie Gemeinsamkeiten? Was ist wichtig, was dagegen nur Neben­sache? Und wer entscheidet darüber? Man hat Aly vorgehalten, die Apo-Aktivisten seien nicht mit den Nazis (und speziell dem NS-Studentenbund, aus dessen Verlautbarungen Aly genüsslich zitiert) vergleichbar, weil ihre Pamphlete und »Aktionen« folgenlos geblieben seien. Aber folgenlos blieben sie nicht deshalb, weil die Apo sie nicht ernst gemeint hätte, sondern weil die »revolutionäre Situation«, die sie so gern herbeiphantasierte, eben nicht bestand. Was wirklich passiert wäre, wenn der SDS anno ’68 die Macht übernommen hätte, wird man nie wissen. Gutes verheißen die Zitate, die Aly dazu ausbreitet, jedenfalls nicht.

Alys Buch hat nur rund 200 Seiten, trotzdem steht viel drin. Vielleicht zu viel. Einen Aus­flug zu Mao und dem Terror der Kulturrevolu­tion gibt es (Aly will damit sagen: Auch die Achtundsechziger hatten ihren angebeteten Führer, vor dessen Verbrechen sie vorsätzlich die Augen verschlossen, obwohl sie Bescheid hätten wissen können und müssen; die schlimmsten erwiesen sogar noch Pol Pot Reverenz); böse Seitenhiebe auf die unterqualifizierten »Discount-Professoren«, die von den Achtundsechzigern in die Reformuniversitäten gehievt wurden (was vorhersehbare Seitenhiebe auf Aly, der nie eine Professur bekam, provozierte); bizarre Überlegungen wie die völlig ernst gemeinte Behauptung, die konservativen Süd-Bundesländer schuldeten Berlin eine Entschädigung dafür, dass es deren rebellische Provinzkinder aufnehmen musste. Götz Aly hat sich dadurch den Vorwurf eingehandelt, seine Argumente seien beliebig und durch keine konsistente Logik zusammengehalten. In Wirklichkeit hat das Buch eine sehr konsistente Logik, die der Autor nur nicht so deutlich benennt, wie es nötig wäre: Neben vielem anderen waren die Achtundsechziger eben auch Hitlers Kinder. Und sie sind die Beweise nicht schuldig geblieben.

Natürlich ist das meiste nicht neu. Die schlimms­ten Belege hat schon Jillian Becker zusammengetragen, und viel später Wolfgang Kraushaar (in »Die Bombe im Jüdischen Gemeindehaus«). Verbindungen von der RAF zur PLO: längst bekannt. Horst Mahlers mitnichten zufälliger Wandel vom Apo-Unterstützer zum prominentesten deutschen Nazi der Gegenwart: bei Aly kaum angedeutet (warum?). Offener Antisemitismus bei Ulrike Meinhof: kurz angerissen. Anti­zionismus als spezifisch deutsche Schuldabwehr: auch nichts Neues, genauso wenig der linke Antiamerikanismus. (Dass der teilweise mit der Imitation der amerikanischen Achtundsechziger und der Bewunderung für sie einherging, ist kein Gegenargument.) Wer mit antideutschen Positionen vertraut ist, wird hier nur Altbekanntes wiederfinden. Bis auf eine Ausnahme: das unfassliche Schweigen der Achtundsechziger über die NS-Prozesse, die landauf, landab vor deutschen Gerichten stattfanden, während die »präpotenten Wahnsinnigen« (Aly) mit sich selbst, ihren Orgasmusschwierigkeiten und dem Skandieren von »USA-SA-SS« beschäftigt waren.

Wenn die Achtundsechziger sich eine moralische Großtat zugute zu halten pflegen, dann die, das Schweigen über das Dritte Reich gebrochen zu haben. Götz Aly zeigt: Das stimmt nicht. Eher stimmt das Gegenteil: Staatsanwälte klagten an, Gerichte tagten, die bürgerliche Presse berichtete. Und die Apo: schwieg. Aly rechnet vor, dass in keinem Jahr, weder davor noch danach, so viele NS-Prozesse geführt wurden wie just 1968. 2307 Ermittlungsverfahren wurden allein 1968 eingeleitet; 30 Prozesse in diesem Jahr abgeschlossen, dabei immerhin 23 lebenslange Haftstrafen verhängt. Aber kein Wort darüber in den einschlägigen Publikationen der Neuen Linken, Kursbuch oder neue kritik. Auch die Methoden der Oral History fördern nichts zutage: »Befragt man die Achtundsechziger heute, erinnern sie sich nicht an einen dieser Prozesse. Stattdessen ist ihnen der Kitzel präsent geblieben, den sie beim allseits beliebten Klamottenklauen erlebten oder beim Coming-out als Steinewerfer.«

Die Ankläger bei diesen Prozessen waren nicht viel älter als die Studenten und jünger als deren Eltern. Die Studenten hätten diese Staatsanwälte moralisch unterstützen können; das wäre ein risikoloser Akt des nachholenden antifaschistischen Widerstands gewesen. Sie taten es nicht. Als Aly sich 1981 an den Anklagevertreter im (gescheiterten) Hamburger »Eutha­nasie«-Prozess wandte, übergab der ihm mehr als einen Kubikmeter Papier mit den Worten: »Ich habe fünf Jahre daran gearbeitet. Sie sind der Erste, der danach fragt.«

Gemeinsame Sache mit Staatsanwälten zu machen, hätte für die Achtundsechziger das Eingeständnis bedeutet, dass ihre Kernbehauptung nicht stimmte: »Der Staat« war eben nicht faschistisch. Faschisten waren die eigenen Eltern gewesen und waren es oft immer noch, aber sich dieser Erkenntnis zu stellen, überschritt das psychisch Erträgliche. Faschistisch war durchaus auch »das Volk«, und die Springer-Presse mit ihrem ungebändigten Hass auf die Studenten war sein Sprachrohr. Aly zitiert Studie über Studie aus der Epoche, die belegen, wie wenig die Prinzipien von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in der bundesdeutschen Bevölkerung verankert waren. Die mit Abstand zuverlässigsten Bastionen von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie waren in der Tat die Bundesrepublik und ihre Institutionen. Die Achtundsechziger bellten den falschen Baum an.

Wie nicht anders zu erwarten war, schreien viele Veteranen und Veteraninnen jetzt auf und sehen »ihre Bio­graphie entwertet«. Womit sie aber nur beweisen, dass diese Geisteshaltung eben nicht auf Ostdeutsche beschränkt ist. Götz Aly hat für »Unser Kampf« fast nur kalte bis geifernde Beschimpfungen erfahren; vor allem von solchen, die »dabei waren«. Dass er selbst »dabei war«, wird ihm vorgeworfen; ein Renegat sei er halt und ein Krawallschwabe. Man weiß ja, dass die immer die Schlimmsten sind. Wäre er nicht dabei gewesen, das ahnt man nicht nur, würde ihm genau das vorgeworfen werden. Wer »das alles« nicht erlebt habe, könne sich gar kein Urteil erlauben. Man kann darauf nur mit Jan Philipp Reemtsma antworten: Der Historiker ist der natürliche Feind des Zeitzeugen. Aly ist beides in einer Person und er stellt sich diesem Konflikt. Das macht sein Buch auch zu einer Bußschrift und verleiht dem Autor den Nimbus des Selbstgeißlers. Ein ernst zu nehmendes Argument gegen Götz Alys Befunde und Thesen ist diese Tatsache freilich nicht. Er stellt harte Fragen an seine Generation. Die wird nicht um ehrliche Antworten herumkommen.

Götz Aly: Unser Kampf. Fischer, Frankfurt a.M. 2008, 256 Seiten, 19,90 Euro

Geändert am 17.3.2008