Jukebox 2.0

Wo die zu Unrecht vergessene Musik läuft: In seiner »Finest Hour« auf BBC 6 Music testet Guy Garvey die ­Spielräume des Digitalradios aus. Von Richard Gebhardt

Guy Garvey, Leadsänger und Gitarrist der britischen Rockband Elbow, ist ein vielbeschäftigter und geachteter Mann. Als Künstler, Produzent der Band I Am Kloot, Kolumnist des Time Out Magazine oder A&R-Manager von Skinny Dog Records avancierte er rasch zum Kritikerliebling, auf den zahlreiche Lobeshymnen gesungen wurden. Das OK Magazine verlieh ihm gar den Titel »all-round thinking woman’s beardy crumpet«.

Das Multitalent Garvey, der der traditions­linken Campaign for Nuclear Disarmament eine Stimme verleiht, scheint diese Kür zum Pop-Intellektuellen zu gefallen. Das Zitat aus OK je­den­falls ziert seit Monaten das Moderatorenprofil seiner Radioshow, die unter dem Titel »Guy Garvey’s Finest Hour« einmal wöchentlich auf BBC 6 Music zu hören ist. Hier erkundet er jeweils sonntags ab 23 Uhr für zwei Stunden die Möglichkeiten des Digitalradios – ohne Nachrichtenunterbrechung, anachronistische Begrenzungen durch die Antennenreichweite oder falsche Rücksicht auf Anzeigenkunden. Die digitale Technologie bietet einen gegenwärtig erst minimal genutzten Freiraum für Formate, die den Massengeschmack ignorieren können und via Internet ein ausgewähltes internationales Publikum finden.

Garvey huldigt in dem kleinen Studio der BBC in Manchester der reichhaltigen Tradition des britischen und US-amerikanischen Songwriting. Die Kunstform Song präsentiert er dabei facetten­reich und genreüberschreitend als große Erzählung oder anrührendes Gedicht, Wutschrei oder Liebesschwur, melancholischen Rückblick oder expressionistische Prosa. Die »Finest Hour« ist ein moderner rockgeschichtlicher Lehrgang für 21jährige, der ganz ohne diese Those-were-the-days-Weinerlichkeit auskommt, die man aus deutschen Nostalgieshows kennt. In der Sendung wirken selbst Stücke von Tom Waits oder Jimi Hendrix wie ein schöner Fund in einer alten Jukebox, die auch mit den Vinylpressungen der neuen Singles von Indiebands wie Feist oder Band Of Horses bestückt wurde. Gerade Hörern außerhalb der Insel ermöglicht Garvey zudem eine Erweiterung des popmusikalischen Spektrums, das selbst von den besseren deutschen Sendungen nicht ganz erfasst wird. Denn wann hört man im deutschen Radio schon Songs von der australischen Rockformation Augie March? Oder von der in L.A. ansässigen Songwriterin Jesca Hoop? Und warum ignoriert man hierzulande bislang die wunderbare Londoner Antifolk-Chanteuse Emmy the Great, deren Veröffentlichungen bislang kaum die europäischen Plattenläden auf dem Festland erreicht haben?

Die Sendung bietet jeden Sonntag eine Entdeckungsreise ins Archiv und in die Gegenwart der Popgeschichte, ergänzt von Grenzgängen in den Blues, Folk oder Jazz. Garvey hilft zudem, auch die Untiefen der MySpace-Community – wo derzeit viele Angehörige der der Antifolk­szene ihre neuen Songs posten – geschmacks­sicher auszuloten. Die Songs für die »Finest Hour« werden dabei so sorgfältig ausgewählt wie erlesene Whiskeysorten – und beschämt bleibt man nach mancher Sendung mit ihren popgeschichtlichen Reminiszenzen und Rehabilitationen zu Unrecht vergessener Musik zurück: Warum wurde dieser wunderbare Song auf dem vorletzten Album von Prefab Sprout übersehen? Warum fällt erst jetzt auf, was für ein großartiger Sänger Mark Lanegan doch ist? Hat Robert Plant von Led Zeppelin jenseits aller Altrocker-Posen nicht eine wirklich erhabene Soulstimme? Und verdammt! – warum hat man seit gefühlten Jahrhunderten nicht mehr »Say it ain’t so« von Murray Head im deutschen Radio gehört?

Zu der Sammlung kleiner und großer Juwelen liefert Garvey als Freund großer Songs und harter Getränke smarte, gut abgehangene Witze über Arztbesuche, seine Grandma oder Chris de Burgh, plaudert mit leichtem Manchester-Akzent launisch über die Erkältung nach dem letzten Elbow-Gig, die Kuba-Tour der Band im Jahr 2004 oder über den Kater nach dem jüngsten Saufgelage mit einem befreundeten Produzenten. Anderntags werden in der Show die Pointen aus den Geschichten der Nacht vom Rauch- und Alkoholdunst befreit. Ja, und ab und zu muss der Moderator vor der Story noch kurz abhusten. Dann folgen ausführliche Interviews mit Gegenwartskünstlern wie Richard Hawley oder Jesca Hoop jahrzehntealten BBC-Archivaufnahmen über rauchende Papageien, Hunde mit liberalen Ansichten, dandyeske Jazzfans in scharfen Klamotten, rebellische Kids und unzüchtige Puritanerschreckmoden, die in den frühen Sechzigern die britischen Inselspießer zu distinguierten Bekundungen des Missfallens reizten. Das Radioarchiv der BBC liefert wahrlich hinreißende Dokumente der Popkulturgeschichte. Garvey bietet mitunter obskures Wikipediawissen über die atonalen Fußnoten und unbesungenen Antihelden der Rockgeschichte.

Die »Finest Hour« ist ein Refugium im täglichen Radiorauschen, geleitet von einem musikverrückten Mittdreißiger, der einst – wie könnte es anders sein – begeistert die BBC-Sendungen des DJs John Peel hörte und Ende der Achtziger/Anfang der Neunziger vom Manchester-Pop, von den Smiths, den Happy Mondays oder den Stone Roses angefixt wurde.

Heute ist er ein großer Songwriter und ein nicht nur im Radio stilbildender Medien­moder­nist. Das für März angekündigte neue Album von Elbow, »The Seldom Seen Kid«, soll das letzte klassische Album der Band werden. Download und MP3 hätten die Hörgewohnheiten verändert, sagte Garvey unlängst in einem Interview mit der BBC. Einzeln heruntergeladene Songs stünden im Mittelpunkt des Interesses der Hörer. Was immer von dieser Einschätzung zu halten ist und welche konkreten Distributionsmodelle daraus folgen – Garveys Show im digitalen Programm der BBC ist die wunderbare Synthese aus Wurlitzer-Jukebox und den Möglichkeiten des Radios 2.0.