Schwarze Witwe und Tsunami

Durch die amerikanische Major League Eating wurde aus dem Wettessen ein professionell betriebener Sport, in dem nicht mehr die Fettsäcke dominieren. von martin krauss

Am 4. Juli des vorigen Jahres stellte Joey Chestnut den bis dahin gelten­den Weltrekord auf, 66 Hot Dogs mit Brötchen verschlang der Amerikaner in zwölf Minuten. Joey Chestnut ist 25 Jahre alt, stammt aus Kalifornien, sieht kräftig aus und ist für einen professionellen Esser trotz seiner 104 Kilogramm wirklich schlank. 13 Weltrekorde hält Chestnut zurzeit: Zum Beispiel bewältigte er in acht Minuten 103 Hamburger; in zehn Minuten schaffte er 59 Sandwiches mit Erdnussbutter; in der gleichen Zeit verputzte er 47 Käsesandwiches vom Grill. Nicht nur beim Schnellessen ist Chestnut Weltklasse, auch wenn es um die schlichte Menge geht, kann ihn kaum einer schlagen: 241 Chicken Wings aß er im Februar dieses Jahres bei dem 16. Wing Bowl – natürlich auch ein Weltrekord, an dem die Konkurrenz lange zu knabbern haben wird.

Auf der Website der Major League Eating, wie die Profi-Essliga in den USA heißt, findet sich nichts Sensationsheischendes, da wird Joey Chest­nut einfach fachlich gewürdigt: »Gesegnet mit starken Speiseröhrenmuskeln und extrem aufnahmefähigen Wangen, gilt er als das größte Backenhörnchen im Profizirkus. Am Ende eines Wettkampfs stopft er seine Backen, bis er aussieht wie Dizzy Gillespie während eines Solos.«

Von seinen Freunden wird Chestnut »Jaw« gerufen, und kulturhistorisch betrachtet ist seine größte Leistung der Hot-Dog-Weltrekord. Nicht nur, weil er den alten Rekord um ganze zwölf Hot Dogs verbesserte, sondern auch und vor allem, weil er den Titel, der alljährlich am 4. Juli, dem amerikanischen Unabhängigkeitstag, vergeben wird, nach über einem Jahrzehnt wieder nach Amerika zurückholte. Die letzten sechs Jahre hatte Takeru Kobyashi, Spitzname »Tsunami«, den Titel und den Weltrekord gehalten. Der 29jäh­rige Japaner war mit seinen nur 72 Kilogramm in den letzten Jahren nicht nur der weltweit wichtigste Wurstesser, er war vielmehr eine Instanz, die alle Konkurrenten niedermalmte, egal was auf den Teller kam. Ein Roger Federer oder Tiger Woods des Wettessens. Kobyashi, auch wenn er zuletzt auf Nummer drei der Weltrangliste abrutschte, ist immer noch der Star der Fressszene: Der Spiegel schätzt sein Jahreseinkommen auf 150 000 Dollar.

Nach seiner Niederlage gegen Chestnut be­haup­tete Kobyashi, er habe an Kiefergelenks­arthritis gelitten. Noch zwei Stunden vor dem Wett­kampf sei er in Behandlung gewesen. Wenn das stimmt, ist die Leistung des Japaners umso eindrucksvoller: Mit 63 Hot Dogs legte er eine persönliche Bestleistung hin, wesentlich besser als die 55er-Marke, die bislang für den kleinen Hunger zwischendurch stand.

Die beste Frau in dieser kräftig zulegenden Sportart ist Sonya Thomas. Die aus Korea stammende Amerikanerin belegt in der für Männer und Frauen gleichermaßen gültigen Weltrangliste zurzeit Platz vier. Die 40jährige, Kampf­name »Black Widow«, die schwarze Witwe, ist nur 47 Kilogramm schwer, aber ihren Leistungen tut das keinen Abbruch: 35 Bratwürste in zehn Minuten. Fünf Kilogramm Käsekuchen in neun Minuten. 65 hart gekochte Eier in 6:40 Minuten. Mit 39 Würsten in zwölf Minuten hält Thomas auch den Frauenrekord im Klassiker des Wettessens, dem Hot-Dog-Essen.

Den gibt es seit 1916, und er wurde immer schon im »Nathan’s Famous« ausgetragen, einem Restaurant in Coney Island, New York, das früher, als es noch nicht so bekannt war, nur »Nathan’s« hieß. Angeblich wollten damals vier Einwanderer mit dem Verzehr möglichst vieler Hot Dogs herausfinden, wer von ihnen der amerikanischste sei. Daraus erwuchs eine der traditionsreichsten und amerikanischsten Sportarten. Superdish statt Superbowl.

Das »Nathan’s«, wie der Klassiker bei den Fans kurz genannt wird, gehört zu den beliebtesten Happenings in New York. An einem langen Tisch stehen 14 Männer und zwei Frauen und schlingen auf ein Zeichen Hot Dogs in sich hinein, zwischendurch trinken sie immer wieder. Vorher brechen sie die Würste in der Mitte durch, damit sie besser im Schlund verschwinden können. Gezählt wird von jungen Frauen in Bikinis, die Schilder mit umklappbaren Zahlen hochhalten. Und damit nichts unter den Tisch fällt, sind jedem der Esser zwei Kampfrichter zugeordnet, die die Athleten anglotzen wie Katzen ihre Herrchen beim Mittagessen. Als gegessen gilt ein Hot Dog, wenn er im Mund verschwunden ist und nicht wieder herauskommt, hinuntergeschluckt muss er nicht werden. Daher findet bei Wettkämpfen wie dem »Nathan’s« kurz vor Ertönen des Schlussgongs ein wüstes Würste­stopfen statt. Wichtige Turniere werden eben im Kopf entschieden.

Etwa 50 000 Fans schauen sich das »Na­than’s«-Spek­takel an, Journalisten aus ganz Amerika reisen an und ESPN überträgt live. Beim historischen Triumph von Joey Chestnut über Takeru Kobyashi am 4. Juli 2007 war sich der Fernsehkommentator von ESPN sicher, dass man Zeuge »eines der größten Momente der amerikanischen Sportgeschichte« geworden war.

Zu gewinnen gibt es beim »Nathan’s« 20 000 Dollar, dazu »internationalen Ruhm«, wie es in der Ausschreibung heißt, und den »Mustard Yellow Belt«, den gelben Senfgürtel. Wer den ein Jahr lang tragen darf, pflegt vor Stolz beinahe zu platzen.

»Nichts repräsentiert den Sommer und den 4. Juli so gut wie das ›Nathan’s Famous‹-Hot-Dog-Wettessen«, freute sich Wayne Norbitz, Chef des Restaurants, über den Sieg eines Amerikaners. »Dieses Jahr hat unsere Nation neue Hoffnung auf Ruhm.«

Organisiert wird der Krieg der Würste von den Brüdern Richard und George Shea. Sie betreiben in New York eine Medienagentur und gründeten vor etlichen Jahren die International Federation of Competitive Eating, die die Einhaltung von Regeln und Tischmanieren überwacht. Zur besseren Vermarktung erfanden die Brüder dann noch die Major League Eating.

Schon deren Name zeigt an, dass das Wettessen eine seriöse Sportart sein will. »Man sagt, dass Wettessen das Schlachtfeld ist, auf dem sich Gott und der Teufel um die menschlichen Seelen gestritten haben«, sagte George Shea der New York Times. Sein Bruder Richard ergänzte: »Bei uns finden Sie ein Niveau an athletischer Disziplin, das Sie sonst lange suchen müssen.«

Und es geht ja nicht nur um Hot Dogs. Die Major League Eating achtet sehr auf abwechslungsreiche Ernährung ihrer Profis: Pizzen, Rinderzunge, Geburtstagskuchen, Austern, Truthähne, einfache Butter und Erdnussbutter. Für über 120 Speisen gibt es je eigene Meisterschaften und Rekordlisten. Allein fünf Sorten Hamburger werden geführt. An Ballaststoffe ist also gedacht. »Früher hat es völlig genügt, wenn man der Mazzeball-Champion ist«, sagt George Shea. »Doch das reicht nicht mehr. Niemand will ein Pony sein, das nur einen Trick beherrscht.«

Die Shea-Brüder sind, wie sie dem Boulevardblatt New York Post verraten haben, »soziale Esser«. Einmal hat George sechs Hot Dogs gegessen, um herauszufinden, wie sich das im Magen anfühlt. Das Ergebnis bedrückte ihn nicht, sondern bewirkte etwas in ihm, das herauswollte. »Die schnell wachsende Marke kombiniert die Attraktivität eines klassischen Sports mit dem Extremsten, was Extremsport zu bieten hat«, formulierte er für die Website der Major League Eating.

Wie bei jedem anderen Sport auch geht es beim Wettessen darum, die körperlichen Leistungsgrenzen zu verschieben, im konkreten Fall: die Grenzen der Magenwand. Gefährlich sei das nur für Untrainierte, heißt es. Mit Meldungen wie der, dass jüngst ein 34jähriger Brite bei einem spontanen Kuchenwettessen erstickte, haben die Major-League-Esser so viel zu schaffen wie die Schwimmnationalmannschaft mit einem Badeunfall.

Nicht nur dass die Sportgeräte der Major League Eating in höchster Qualität zubereitet und nur in standardisierter Größe gereicht werden, bei den Veranstaltungen wird immer sehr auf Verträglichkeit geachtet. So werden Wettkampf-Hot Dogs beispielsweise gegrillt und nicht gekocht, damit sie nicht aufspringen, und die Brötchen werden in Wasser gestippt, denn trockenes Brot bekommt man so schwer runter.

Wie sie trainiert, verrät Sonya Thomas auf ihrer Website. Regelmäßig besucht sie All-you-can-eat-Restaurants, wo sie vor allem Gemüse isst. Eine große Mahlzeit nimmt sie täglich zu sich, und Fastfood meidet sie dabei. Zwei Stunden täglich steht sie auf einem Stepper, und in der Nacht vor einem Wettkampf fastet sie.

Wie Sonya Thomas, so trainieren auch die anderen der registrierten 50 Weltranglistenesser. Joey Chestnut, der in diesem Jahr den japanischen »Tsunami« bezwang, sagt, dass es dieser Takeru Kobyashi war, der den Esssport revolutionierte. »Er war der erste, der das Essen wie einen Sport behandelt hat«, rühmt »Backe« Chestnut seinen Konkurrenten. »Der erste, der zeigt, dass du dafür kein Vier-Zentner-Kerl sein musst. Du kannst ein Sportler sein und gesund.«